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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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Hinter ihnen lagen verstreut einige Gestalten am Boden, als hätte einer Kohlensäcke verloren. Das waren die, die einfach nicht mehr gekonnt hatten. Sie würden erfrieren oder waren es bereits. Nie mand kümmerte sich um sie. Einer fasste Bubi am Bein. Bubi riss sich los, stolperte weiter.
    Hans, Fritz, Rollo, Gross gehörten zu den Überlebenden. Gross arbeitete mit einer Ausdauer, die i n Anbetracht seines ausgemergelten Körpers unheimlich war. Dadurch machte er den anderen Mut. Wenn es dieses Gespenst schaffen konnte, konnten sie es auch. Hin und wieder stieß Gross trotzige Verwünschungen aus. Er würde graben bis zum Tod. Sich in sein eigenes Grab hineinschaufeln.
    Links und rechts neben ihnen wühlten sich andere Sträflinge und russische Hiwis voran. Die Nationalität war längst gleichgültig. Neben Rollo starrte einer auf einen Blutfaden, der aus seinem Mund auf die Schaufel tropfte. Dann glitt er lautlos zu Boden. Hans stolperte über ihn.
    »Liegen lassen«, lallte Rollo. »Hat’ s hinter sich. Liegen lassen …«
    Er hob mit verzerrtem Gesicht seine Schaufel, die sich plötzlich ganz leicht anfühlte, ebenso wie der Schnee , in dem er sich keuchend wiederfand. Er wollte aufstehen, aber ein Stiefel trampelte seinen Kopf in ein kaltes, weißes Kissen, dann noch einer. Er versuchte zu schreien, doch er bekam keine Luft, und sein Herz machte einen letzten Satz, bevor alles zu zerspringen schien und ein grelles Licht in seine geschlossenen Augen fuhr.
    Plötzlich stand er wieder. Freitag hatte ihn aufgehoben und hielt ihn aufrecht. Ein zäher, grauer Str om aus Leibern zog an ihnen vorbei. Freitag rief den Russen herbei, der die Knochen in den Schnee steckte. Dieser nahm wortlos Rollos Schaufel. Rollo bemerkte erst jetzt, dass er laut schluchzte. Freitag wischte ihm übers Gesicht.
    »Nix weinen, viel kalt, Augen kaputt.«
    Rollo taumelte mit den Pferdeknochen davon und steckte zitternd den ersten in den Schnee. Die Wachposten hatten den verbotenen Wechsel zwar bemerkt, aber es war ihnen längst egal. Auch sie wollten nur noch ins Quartier. Rollo taumelte weiter, rammte den nächsten Knochen in das kalte Weiß, merkte, dass noch ein Fetzen Fleisch daran haftete, kratzte ihn mit den Fingernägeln ab und steckte ihn sich in den Mund. Der Fleischfetzen mobilisierte seine letzten Kräfte. Er taumelte mit den Knochen weiter.
    Gross blieb plötzlich stehen, starrte angestrengt in die Finsternis. Undeutlich wuchs vor ihnen ein langer Turm aus dem Schnee, der eine dicke Kugel trug. Der Wasserturm des Bahnhofes. Dann sahen ihn die anderen auch. Hier waren sie vor knapp zwei Monaten angekommen, aber die meisten erkannten den Ort nicht wieder. Erschöpft sanken sie in den Schnee oder stützten sich auf ihre Schaufeln. Einige lallten und krächzten vor Erleichterung.
    Den Posten verlieh der Anblick frische Kräfte. »Wann Pause ist, bestimmen wir! Weiter!«
    Dass nun ein vorläufiges Ende dieser Hölle abzusehen war, ließ die Männer wieder auf die Füße kommen. Sie arbeiteten mit letzter Verbissenheit weiter.
    Niemand störte sich daran, dass der freigeschaufelte Weg hinter ihnen von neuem Schnee wieder zugeweht wurde. Es war auch nicht weiter wichtig. Diese zusätzliche Strecke von den Stabsquartieren zum Bahnhof wurde seit de r Einkesselung wegen des fehlenden Nachschubs sowieso nicht mehr benötigt und war nur aufgrund eines Planungsfehlers freigeschaufelt worden.

 
     
     
     
     
     
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    R ollos Uhr zeigte auf eins. Das war bereits die ganze letzte Woche so gewesen und würde sich auch nicht mehr ändern. Es interessierte auch niemanden mehr, wie spät es war.
    Gemeinsam mit einem ihrer missmutigen Bewacher tauten sie in einem Schneeloch langsam wieder auf. Der Boden war mit einer Zeltplane ausgelegt, von der Decke baumelte, am S tiel eines Spatens aufgehängt, eine rostige Konservendose mit Löchern, in der eine kleine Kerze flackerte. Bubi schlief wie ein Toter, die anderen Männer entlausten sich und warfen die Läuse in eine andere Konservendose, unter die sie einen Kerzenstummel gestellt hatten. Von Zeit zu Zeit tunkte einer einen Lappen in das Fett und schmierte damit seine Stiefelnähte.
    Der Posten, von dem man bisher nur erfahren hatte, dass er Ludwig hieß, gähnte. Er hätte auch einschlafen können; die Männer waren viel zu kaputt, um abzuhauen. Wo hätten sie auch hingehen sollen? Ihr kleines Gefängnis war seit über vier Wochen von einem großen Gefängnis umgeben, gegen das sich

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