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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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eine gesamte Armee mit wachsender Agonie stemmte.
    Der Posten blinzelte, warf die abgerauchte Kippe auf den Boden und steckte sich eine neue an. Rollo grapschte hastig nach dem noch glühenden Rest und sog gierig daran. Ludwig ließ es geschehen. Abends war er human. Er war Bauer und hatte eine Menge Schweine zu Hause. Die hatte er auch nie unnötig gequält. Tagsüber musste man die Herde zusammenhalten, das war klar, notfalls mit Fußtritten und Kolbenhieben, das ging nun mal nicht anders. Aber nach Feierabend, da durfte man Mensch sein. Er war sicher, dass seine Sträflinge das auch so sahen.
    Bis auf den Verrückten vielleicht, den die anderen »Skelett« nannten. Und den langen Russen, der an diesem Tag zum ersten Mal dabei war. Früher wäre so etwas undenkbar gewesen, dass man Russen und Deutsche in einem Raum zusammenpferchte, aber nun war alles anders. Es gab zu wen ige Unterkünfte, zu wenig Brennholz, zu wenig Arbeitskräfte, zu wenig von allem. Die Welt war in Unordnung geraden, und Unordnung war das Schlimmste, was der Welt passieren konnte. Das hatte Ludwig schon immer gewusst.
    Umso wichtiger war ihm, in seiner eigenen bescheidenen kleinen Welt die Ordnung aufrechtzuhalten. Er warf einen prüfenden Blick auf die kleine Herde von sechs Männern, die ihm anvertraut war.
     
    Rollo wischte den letzten Rest Läusefett aus der Dose. »Was is? Ich hab erst zwoundachtzig reingeschmissen. Keine Abschüsse mehr? Is schon wieder alle.«
    Fritz untersuchte den Kopf von Hans, ohne Erfolg. »Blaues Blut mögen sie nicht. Die wissen, was gut ist.«
    Es waren die gleichen Sticheleien wie früher, nun aber ohne Kraft, ohne Witz. Es war, als versuchten sie damit krampfhaft die Verbindung zu ihrer Vergangenheit zu erhalten, und manchmal, wenn sie sich erinnerten, denselben Satz in einer glücklicheren Situation ausgesprochen zu haben, lächelten sie wie alte Männer, die sich über ihre Jugend unterhielten. Rollo begann, den schlafenden Bubi nach Läusen abzusuchen, wurde fündig und warf sie in die Büchse, wo sie mit einem leisen Knall zerplatzten.
    Rollo schob Bubis Ohrenschützer beiseite – und zuckte erschrocken zurück. »Scheiße! Sein Ohr.«
    »Was?«
    »Abgefroren.« Mit Daumen und Zeigefinger hielt er Bubis überdimensionale Ohrmuschel in den Raum.
    Das Ohr ließ Fritz seine bohrenden Hungergefühle vergessen. »Mensch, tu’s weg. Schläft er noch?«
    »Ja.« Rollo suchte nach einem Platz, an dem er das Ohr verstecken konnte, tat es schließlich in seine Tasche und beschloss, es am kommenden Tag unauffällig im Schnee verschwinden zu lassen.
    »Wenn das Hirn nicht mehr denkt«, sagte Gross und streckte die Finger über die warme Dose mit dem Läusefett, »friert es ein. Aber vielleicht wären die gefroren en Gedanken die einzig wahren.«
    »Lassen Sie mich in Ruhe«, murmelte Hans. »Ich will versuchen, ein wenig zu schlafen.«
    »Meine Worte werden Sie in den Schlaf wiegen. Ich werde flüstern, ich verspreche es.« Gross’ lumpenumwickelte Kralle legte sich auf Hans’ zitternden Arm. »Ich gebe zu, ich habe Ihnen den Tod heute nicht gegönnt. In dieser Kälte klammert man sich an jeden Funken Wärme, mag er noch so verlogen und falsch sein. Selbst Sie können es sich nicht mehr leisten, auf Qualität zu achten, weder bei der Auswahl Ihrer Kleidung noch bei der Ihrer Kameraden.« Ein sardonisches Lächeln glitt über sein Totenkopfgesicht. »Uns verbindet eine echte Lumpenkameradschaft.«
    »Hören Sie doch endlich damit auf«, flüsterte Hans.
    Gross zuckte mit den Schultern . Sein Blick glitt über die Eiszapfen, die sich an der Decke gebildet hatten. »Der Stolz«, sagte er schließlich, »ist das Schädlichste. Diese bornierte Eitelkeit, dem Schmerz widerstehen zu wollen, an ihm zu wachsen. Schauen Sie mich an. Ich bin ein solches Gewächs. Eine Wucherung.« Verwundert fuhr er sich über die Wangen, über die auf einmal Tränen liefen. »Ich werd nie mehr versuchen, Sie davon abzuhalten zu sterben«, flüsterte er mit erstickter Stimme. »Es ist ein Verbrechen, unter diesen Umständen. Ich wäre froh, wenn ich mich töten könnte. Aber ich kann es nicht. Ich kann es nicht. Ich habe Angst.«
    Er lauschte dem Klang seiner Stimme nach, als könnte sie ihn ins Jenseits tragen, dann ließ sein schrilles Lachen alle zusammen fahren. Mit einem Schlag war die Verzweiflung aus seinem Gesicht verschwunden, und nur die Tränenspuren erinnerten noch an seinen Ausbruch. Er blickte in die Runde, als wäre er gerade

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