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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
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Ämter und Museen entweder von zwölf bis eins oder von eins bis zwei geschlossen sind. Oderes kann eine Inventur durchgeführt werden, wegen der die Geschäfte oft geschlossen werden, wenn den Verkäuferinnen danach zumute ist oder sie etwas anderes zu tun haben oder es im Geschäft nichts zu verkaufen gibt oder Bückware verkauft wird. Aus der Anzahl der Inventuren zu schließen hätte man annehmen können, dass es im Laden mehr Ware gibt, als dort Platz findet.
    Zu Hause sind die Kaffeetassen in den Cafés Einzelstücke.
    Sollte ich zu Hause bleiben? Beziehungsweise dort, wo etwas davon übrig ist? Hierher hatte ich doch immer gewollt. Ist dies der Ort, wo ich mich hatte hinhungern wollen?
    Alkohol wurde ab 1988 auf Karten verkauft, davon musste man so viel nehmen, wie man bekam, auch wenn man ihn nicht konsumierte, und der Wäscheschrank der Tante, genau der hier vor mir, an der Wand neben dem Ofen im Wohnzimmer, füllte sich mit Schnapsflaschen, sie wurden zu einer gängigen Valuta. Zu jener Zeit machte meine Tante viele gute Geschäfte mit Schnapsvaluta. Ebenso war es mit Zigaretten, Zigaretten bekam man fünf Schachteln pro Kopf im Monat, in Russland dreihundert Zigaretten pro Quartal! An Streichhölzern herrschte Mangel, besonders, wenn man rauchte und in einem Haus wohnte, das mit Holz geheizt wurde – Streichhölzer bekam man fünf Schachteln im Monat, wenn man in einer Stadt wohnte, wo die meisten Häuser mit Holz geheizt wurden. Wenn es davon weniger gab, betrug die erlaubte Menge an Streichhölzern fünf Schachteln pro Vierteljahr.
    Wenn ein größeres Fest bevorstand, ein runder Geburtstag oder andere entsprechende juubeleita , Feste, dann bekam man, wie viele waren es doch gleich, zu Großmutters achtzigstem Geburtstag bekamen wir wohl zehn Flaschen Kognak und fünf Flaschen Sekt, ob es nun genau so war, das weiß ich nicht mehr … Das war Gorbis Abstinenzkampagne, die Alkoholreform oder wie das nun hieß … In Russland verhungerten die Tiere im Kolchos, weil niemand arbeitete,sondern die Leute tagelang stockbesoffen waren, denn in den Geschäften Russlands gab es kaum etwas anderes zu kaufen als Alkohol, der auch nach lokalen Maßstäben billig war, und andere Vergnügungen waren dünn gesät. So verbot Gorbi den Verkauf von Alkohol während der Arbeitszeit und rationierte ihn auch sonst.
    Auch für eine Beerdigung gab es alkoholische Getränke … Für Großmutters Beerdigung … Ihr Sarg wurde offen auf dem Hof aufgebahrt, vor diesem Etagenhaus … Großmutters vom Tod gewachstes Gesicht … Jemand spielte auf der elektrischen Orgel daneben einen Psalm, die Orgel war das Geschenk einer finnischen Gemeinde und wurde auf eine kolchosblau gestrichene Tonne gesetzt … das Anschlusskabel reichte über Verlängerungsschnüre bis in die Wohnung der Tante … Die Tür ging nicht ordentlich zu, weil die Schnur dazwischenlag, und die Leute stolperten beinahe darüber, denn niemand bemerkte sie dort vor seinen Füßen … Mutter schluckte Beruhigungsmittel und versuchte unter dem Anschlusskabel hindurch aus der Wohnung der Tante hinauszukriechen … Auf dem Esstisch warteten gepellt und dampfend große gelbe Kartoffeln, und mir wurde übel, der Gestank der Kartoffeln machte die Luft dick, und mir wurde schwindlig, meine Tante nötigte mir Essen auf, aber ich aß nichts, überall schienen Schüsseln mit Kartoffeln zu stehen … Ihr Geruch blieb in den Haaren und am Kissen hängen, und da war er auch am nächsten Tag noch … Das gläserne Starren der Fenster auf den Hof … Von Großmutter waren nur noch die Wangenknochen aufrecht … Die verrosteten Pfähle der Wäscheleine knarrten … Zwischen den Fenstern tote Fliegen.

1956
    Die Rõug’schen Söhne sind – anders als ihre Eltern und Schwestern – nicht bereit, Sibirien zu verlassen, obwohl die allgemeine Begnadigung der Gefangenen von 1956 sogar die Politischen betrifft und so auch der Familie Rõug das Recht gibt, nach Estland zurückzukehren. Die Söhne heiraten in Sibirien russische Frauen und bleiben dort. Wohin hätten sie auch gehen sollen? In ihr Dorf, das sie verraten hatte, in ihr Haus, in dem andere Leute wohnten, an dessen Tisch die Familie eines Denunzianten saß oder die dicke Tochter eines Russen, die Tee trank oder saure Gurken aß, in das Land, wo die Kühe des Kolchos weideten, und zu den Menschen, unter denen ihre Verschlepper waren, in dasselbe Dorf, um dieselben Wege entlangzuwandern, um für dieselben Menschen im

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