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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
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Kolchos zu arbeiten, um denselben Mähdrescher zu fahren, um auf derselben Bank zu sitzen, um nachzusehen, ob Karlas, des lieben Onkels, Kaffeetasse dieselbe war wie die, aus der seinerzeit sie selbst tranken, ob Karlas Söhne die Hosen, die ihnen gehört hatten, bis zum Verschleiß abgetragen hatten, wie Elfriide vielleicht als Heldenmutter gefeiert und wie sie im Kleid von Mutter Aino Rõug auf einem Foto verewigt wird an dem Tag, als ihr der goldene Stern einer Heldin der sozialistischen Arbeit und Beifall und Blumen und Ehre zuteilwerden?
    Im Jahr der Amnestie 1956 kehren Kiisa mit ihren Söhnen und Leeve mit ihren Töchtern nach Hause zurück, um nachzusehen, was der Große Vaterländische Krieg übrig gelassen hat. Oswald war in der Tundra geblieben.
    Tallinn ist immer noch Tallinn. Die Türme der Dicken Margareetta und des Langen Hermann stehen an ihrem Platz. Die Pappeln. Die Ebereschen. Dieselben Pappeln und dieselben Ebereschen wie damals, als ihr Zug sich nach Sibirien in Bewegung setzte. Und immer noch sind Menschen auf den Straßen, lachende, niesende oder schniefende, Kinder und verliebte Paare, Plaudernde.
    Auf Russisch Plaudernde.
    Russische Soldaten.
    An die Stelle jedes Kreuzes, jeder Krone sind Hammer und Sichel in den Stein gehauen worden.
    Wenigstens etwas Bekanntes. Wenigstens etwas von Sibirien ist auch hierher gekommen. Jetzt kann man damit überleben, da man gewohnt ist, die eisige Luft Sibiriens zu atmen.
    Niemand ist daran interessiert, den Heimkehrern aus Sibirien ein Zimmer zu vermieten, niemand möchte sie so recht einstellen. Denn man weiß ja nie. Was passiert. Das könnte ja interpretiert werden. Sonst wie. Als estnische Gesinnung. Als irgendetwas.
    Die Söhne von Kiisa sind in dem Alter, dass sie gefährlich sein könnten. Auch in diesem Sinn. Kiisa dagegen ist schon um einiges älter, sodass … Aber sie ist doch aus Sibirien gekommen. Man weiß ja nie. Wo in diesem Haus schon so viele Personen leben. Wo die Tochter gerade nach Hause zurückkehrt, die Schule gerade beendet. Wo die jungen Leute doch gerade geheiratet haben und einen eigenen Raum brauchen. Und dann ist auch ein Baby unterwegs. Wo doch die Oma nicht mehr allein leben kann und demnächst zu uns zieht, du verstehst doch, Kiisa, es wird zu eng, du verstehst doch, Leeve, dass das unmöglich ist, ihr versteht doch, Jungs, dass ihr hier einfach nicht mit hereinpasst. Hier ist kein Platz für euch.
    Und die Schule müsstet ihr schon abgeschlossen haben, um beiuns arbeiten zu können. Ihr müsstet ein Zeugnis haben. Ohne geht es nun mal nicht. Ihr hättet mal dort die Schule besuchen sollen, Jungs, dort, wo ihr wart. Schulschwänzer sind nirgendwo gut angeschrieben.
    Aber in Sibirien hätten die Jungs die Schule, die sie fast abgeschlossen hatten, nochmals von der ersten Klasse an besuchen müssen, und wer nicht arbeitete, bekam nicht seine tägliche Ration von dreihundert Gramm Brot, und die Ration der Mutter reichte nicht für zwei fast erwachsene Jungen, und sie hatten keine andere Wahl. Als Traktor zu fahren.
    In die Autoschule werden die Jungen in Estland schließlich aufgenommen, und so werden sie von Beruf Kraftfahrer.
    Die Jungen warten eine Weile, sie warten auf freundlicheres Wetter, das zwanzig Jahre später kommt. Da hat Karla keine Beschützer und keinerlei Macht mehr. Da braucht auch der Kolchos Karla nicht mehr. Da kann man ihn an einem dunklen Herbstabend unbesorgt verprügeln und vorher sagen, wer man ist. Im Krankenhaus bleibt Karla noch ein paar Wochen am Leben, kann sprechen, sagt aber kein Wort mehr.
    Kein einziger Dorfbewohner geht zu seiner Beerdigung.

IM
JAHR
1984 bekamen wir den ersten abschlägigen Bescheid auf eine Einladung meiner Tante. Da Mutter jedoch die Großmutter sehen wollte, mussten wir als Touristen nach Tallinn fahren, im Hotel übernachten und die Großmutter, die sich bis nach Tallinn schleppte, bei Juuli einquartieren. Die Reise dauerte die drei Tage, die Touristenreisen nach Tallinn damals normalerweise dauerten.
    Auch im Jahr darauf bekamen wir einen abschlägigen Bescheid.
    Großmutter sagte, Linda habe alles vermasselt, aus purer Bosheit.
    Mutter verdächtigte Maria, deren Freund sie verlassen hatte wegen der Jeansjacke, die Mutter nicht mitgebracht hatte.
    Der Staatsbedienstete, der die Einladungen bearbeitete, sagte dank hundert Finnmark, die abschlägige Antwort sei aus dem Gebiet Haapsalu gekommen. Dort wolle jemand nicht, dass wir in die Stadt kamen, aber er konnte nicht

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