Stalins Kühe
und Annas Bestnoten zählt, sie kann nichts zu Irenes Gunsten sagen.
Irene macht selbst dann keine Anspielungen, als Anna ihr einen großen Regenschirm schenkt und aus Versehen dazu sagt, Irene brauche den ja nötiger. Denn er ist eigentlich ein Herrenschirm und verdeckt das Gesicht, egal, wie man ihn hält. Anna hatte genau so einen haben wollen, aber das war fünf Kilo vor dem Augenblick, als sie den Schirm Irene anbot, die so schlechte Haut hat, dass schon allein dieser Umstand Irene für den Schirm begeistern sollte. Ihren zweiten, einen roten Schirm, könne Anna selbst in Gebrauch nehmen, den hatte sie noch kein einziges Mal benutzt, er riecht nach Kunststoff und ist durchsichtig. Und wenn es noch so sehr regnete, man könnte Anna ganz darunter sehen. Anna wiegt fünfzig Kilo, und das sollen alle bemerken. Außerdem möchte Anna sich auch in Fenstern und Spiegelnselbst betrachten, und den anderen Schirm müsste sie dann so hoch heben, dass Wind und Regen sich über sie hermachen würden und der Wind sie mitnähme, wohin er wollte.
Mutter fragt, ob Irene den Eindruck mache, über das Treiben ihrer Mutter Bescheid zu wissen. Anna sagt, nein … das wohl nicht. Aber warum spricht Irene dann immer von Abhöranlagen und Spionage? Warum ist Irenes Lieblingsspiel Der Spion , das die Mädchen sich selbst ausgedacht haben, warum hat sich Irene für eine Karriere als Geliebte eines reichen Mannes entschieden, warum liest Irene die Kontaktanzeigen, um irgendwann eine richtige, bessere als die anderen schreiben zu können? Wie gelingt es Irene, immer alle möglichen nützlichen Informationen aus den Sekretariaten der Schule, aus den Heften des Kurators, aus den Papieren des Schulpsychologen zu beschaffen, wieso ist Irene immer zur rechten Zeit am rechten Ort und kann an den richtigen Stellen suchen? Es fällt ja wohl nicht jedem Zehnjährigen, und sei er noch so neugierig, ein, die Tasche des Lehrers zu durchwühlen, wenn er sich umgedreht hat, um etwas an die Tafel zu schreiben. Nicht, dass Irene etwas gestohlen hätte, aber wenn dort zum Beispiel Briefe an die Eltern irgendwelcher Kinder oder sonst etwas war …
Anna sagt der Mutter, es gebe nichts, womit sie sie dazu bewegen könnte, auf Irene zu verzichten.
Nein?
Anna leugnet nicht, dass die Mutter mit ihren Zweifeln recht haben könnte, aber von Irene wird sie dennoch nicht lassen. Irene ist Annas beste Freundin.
Anna, hör mal, Irenes Mutter hat eine Stelle bei einer staatlichen Behörde gefunden, wo es um Außenhandel und Industrie geht … Sie hat oft die Arbeitsstelle gewechselt und immer schnell eine neue gefunden.
Na und?, schreit Anna.
Anna, Irenes Mutter wohnt in einer städtischen Mietwohnung und ist Alleinerziehende von vier Kindern, macht aber dennoch mit ihrer ganzen Mischpoke Reisen durch die USA und Spanien, nach London, Paris und Deutschland. Immer in Fünf-Sterne-Hotels. In der ersten Klasse. Unter einem Fünf-Sterne-Hotel macht Irenes Mutter es nicht. Eine gewisse Qualität muss das Leben schon haben. Anna … die Familie macht solche Reisen, während das Sozialamt die Brillen der Kinder bezahlt.
Na und? Wenn das nun ein Zufall ist?
Das Kind einer solchen Frau kommt mir nicht ins Haus!
ALS
IRENE
UND Anna zusammen eine Reise nach Tallinn machen, übernachten sie bei Juuli, der Freundin von Annas Mutter. Juuli weiß über Irene nichts anderes, als dass sie Annas Klassenkameradin ist. Aber Irene erzählt, dass sie auch ihre Oma besuchen will. Als Juuli sich darüber wundert, spricht Irene von ihrer estnischen Mutter. Anna hatte Irene natürlich nicht verbieten können, darüber zu sprechen, oder wie hätte sie ihr erklären sollen, dass es nicht nötig sei, Juuli auf diese Weise zu erschrecken. Denn offiziell kann daran nichts Erschreckendes sein. Anna schaut nicht zu Juuli hin, während Irene ihre Familienverhältnisse erläutert, ahnt aber Juulis Miene … verwundert, vorsichtig, so, dass sie wohl gleich die Mutter anrufen wird. Am nächsten Tag teilt Juuli dann tatsächlich Annas Mutter mit, dass es vielleicht besser wäre, wenn eine Zeit lang niemand sie besuchen käme.
… und wann hat Irenes Mutter sich von ihrem Mann scheiden lassen? Doch wohl nicht damals, als die Geschäftstätigkeit von Irenes Vater unter die Lupe genommen und festgestellt wurde … ohoh, gewerbsmäßiger Export von Jeans nach Sowjet-Estland? Das war doch wohl nicht kurz bevor Irenes Vater ins Gefängnis kam? Handelte es sich nicht um genau denselben Mann,
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