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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
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dessen Frau die mit der warmdunklen Stimme war, die Mutter angerufen und zum Kaffee eingeladen hatte und von deren Kaffee-Einladung die Mutter damals der Sicherheitspolizei erzählte? Und was hatten die von der Sicherheitspolizei gesagt? Das war aber gut, dass Sieda nicht hingegangen sind, wir hatten dort dies und das zu ermitteln. Was Anna dazu zu sagen habe? Was? Ob Anna immer noch behaupte, dass die Mutter sich geirrt habe?
    Trotzdem drückt Anna in der Zweierreihe bei dem Klassenausflug und in der Essensschlange an der Tür zum Speisesaal der Schule fest Irenes Hand. Anna und Irene sind ein selbstverständliches Paar in jeder Sportstunde, und sie kriegen es immer hin, dass sie nebeneinandersitzen, wenn die Sitzordnung der Klasse geändert wird. Und wenn Mutter und Vati gleichzeitig auf Dienstreise sind, lädt Anna Irene zu sich ein, und sie haben richtig Spaß miteinander.
    Ebenso selbstverständlich überprüft Irene später die Hintergründe eines jeden ihrer männlichen Freunde. Einem armen Mann verfällt sie nicht. Natürlich muss sie sich seiner Vermögensverhältnisse vergewissern. Irenes Traumberuf ist Liebhaberin, die in die Badeorte und zum Beispiel nach Wien mitgenommen wird, die den teuersten Kognak zu trinken bekommt, die in Fünf-Sterne-Restaurants ausgeführt und mit teuren Parfums beschenkt wird. Die über die Strümpfe waschenden Ehefrauen lacht. Und Irene lächelt immer, wenn sie über ihren künftigen Beruf spricht, der wird wunderbar sein, ein perfektes Leben mit perfekten Pelzen, Abendessen und Reisen.
    Anna bringt es nicht übers Herz, Irene zu sagen, dass aus Irenes öffentlichem Essen wohl nichts werde. Aber vielleicht ändert sich das ja, wenn sie einen Liebhaber hat. Oder vielleicht kommt es auf das Essen gar nicht so sehr an, sondern darauf, dass sie sich im Restaurant zeigen und jemanden darstellen darf, für den das Essen selbstverständlich und nichts Schwieriges ist. Und in den Restaurants darf man ja die Speisekarten lesen, das tut jeder Mensch mit Essstörung gern, die könnten vielleicht Irenes neue Lieblingslektüre werden, wenn die Kochbücher der Bibliothek gelesen sind. Die kostenlosen Rezepte aus den Geschäften allein genügen nicht.

    Übrigens wäre es ganz natürlich, in den Restaurants lange Gespräche über das Essen zu führen. Vielleicht wäre das das Richtige für Irene, die sich im Fernsehen jede Kochsendung ansieht. Auch miteinander sprechen Anna und Irene mehr über Rezepte als über Kalorien und Abnehmen. Über Sahne gibt es aus irgendeinem Grund mehr zu reden. Und über echte Molkereibutter. Im allersahnigsten Restaurant könnte Irene sich wohler fühlen als irgendwo sonst, obwohl das doch gleichzeitig die Hölle wäre.

1974
    Katariinas Finne – jetzt ihr Verlobter – hat einige neue estnische Bekannte, und er nimmt Katariina zu einer Abendgesellschaft zu ihnen mit, als er aus Moskau nach Tallinn auf Urlaub gekommen ist. Katariina mag die Familie des Bekannten nicht, so wie sie bisher keinen einzigen der Esten mag, die um die Finnen herumwuseln. Der Bekannte ist servil und lamentiert Dutzende von Malen, was er so feinen Gästen nicht alles vorsetzen würde, wenn es nur etwas gäbe, was er ihnen vorsetzen könnte!
    Katariina weiß nur zu gut, dass man alles bekommen kann, man muss es nur von der hinteren Tür des Ladens und nicht von der vorderen holen gehen. Klar ist auch, warum man es so machen muss. Für die Einwohner von Tallinn würde nichts übrig bleiben, wenn die Waren auf der Ladentheke ausgelegt würden, denn die russischen Touristen würden die Geschäfte leer kaufen, noch ehe auch nur ein einziger Este oder ortsansässiger Russe zur Stelle wäre. Und Katariina weiß, dass auch der Mann das weiß. Ekelhaft!
    Ach, wenn ich nur eine Frau und an deiner Stelle wäre!
    Die Kriecherei des Mannes widert Katariina an.
    Bei euch in Finnland gibt es so etwas natürlich nicht! Gegen Ende des Abends kommt der Mann zur Sache, er zeigt ihnen Medaillen aus estnischer Zeit und möchte sie – natürlich – an jemanden im Ausland schicken, wahrscheinlich einem Verwandten, das wäre doch keine große Mühe, sie bei dem nächsten Finnlandurlaub am Boden des Koffers zu verstecken?

    Katariina sieht ihren Verlobten an. Der verspricht, sich die Sache zu überlegen, aber Katariina weiß, dass das ein unbedingtes Nein bedeutet, und ist zufrieden. Die ganze Geschichte wirkt auch sonst inszeniert. Es ist ja allen klar, dass man niemandem über die Grenze irgendetwas

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