Stalins Kühe
dem Vati irgendwo in der Sowjetunion auf derselben Baustelle gewesen ist, und dann gibt es in den Gängen von Prisma so viel zu erzählen, dass Mutter sich zurückzieht und im Auto wartet, während Anna den Einkaufswagen belädt.
Keiner dieser Männer schaut Anna oder Mutter an, nie wird jemand vorgestellt, Anna und Mutter sprechen mit niemandem, und Anna wird klar, dass Vati das auch gar nicht will, da er seine alten Freunde nicht nach Hause mitbringen darf, aber wahrscheinlich findet auch Vati mit der Zeit, dass das die beste Lösung ist. Die Männer gehören zu einem anderen Leben, zu einer anderen Umgebung, zu Abenden, an denen man mit anderen Frauen zusammensitzt, und wenn Vati dann endlich zum Wagen kommt, ist er gereizt und fährt geräuschvoll, bremst scharf, sagt kein Wort, setzt sich hin und lässt den Fernseher brüllen, während Mutter und Anna die Einkaufstaschen auspacken.
Irene und ich, wir sprachen nicht darüber, wieso wir eigentlich alles über den Verrat der Männer und die Verhältnisse der Väter mit den Nataschas wussten.
Dann hätten wir uns ja mit dem Thema befassen müssen, über das wir nicht sprachen.
Wir konzentrierten uns darauf, über das Essen sehr präzise zu sprechen und ansonsten um den heißen Brei herumzureden.
Aber wir wussten es beide. Schwestern.
WENN
MUTTERS
ESTNISCHE Bekannte Finnland besuchten, kamen sie auch zu uns, aber Mutter öffnete ihnen nicht die Tür. Vom Balkon aus sahen wir zu, wie sie fortgingen. Manchmal erkannten wir sie gar nicht. Während uns früher strenge Reisebeschränkungen geschützt hatten, kamen nach der Grenzöffnung alle möglichen Leute, die ihr Glück versuchten, und klopften an unsere Tür, angefangen bei der Cousine zweiten Grades des Mannes von Cousine Maria bis zu einem Jungen, den Mutter zuletzt in der Grundschule gesehen hatte. Menschen, denen wir niemals begegnet waren, die aber jemanden kannten, der uns kannte.
Wenn jemand, den wir wirklich kannten, sich vorher ankündigte, dachte Mutter sich für diese Zeit einen Termin aus, der nicht abgesagt werden konnte. Dennoch musste sie manchmal jemanden empfangen, der von großem Nutzen war. Mutter hasste das. In der typisch finnischen Kleinstadt estnisch zu sprechen. In der typisch finnischen Kleinstadt mit Estinnen unterwegs zu sein. Sie hasste es, wie sich diese Frauen mit ihren wiegenden Hüften, den hochhackigen Sandalen und dem leuchtend roten Lippenstift vom Straßenbild abhoben, da ein großer Teil der Töchter Finnlands in Radlerhosen und T-Shirts, in Jeans und Turnschuhen und ohne sichtbares Make-up unterwegs war. Mutter hasste das, sie hasste das ganz fürchterlich. Zum Glück brauchte ich nicht mit in die Stadt, in die Geschäfte und auf Sightseeingtour zu gehen. Ich hätte einem Bekannten begegnen können. Und was dann? Ich weiß es nicht. Oder auch Irene.Ich hätte unter keinen Umständen Irene begegnen dürfen. Oder Irenes Mutter. Das wäre der Weltuntergang und die Sintflut gewesen.
Wenn Mutter mit ihren estnischen Bekannten in die Stadt ging, saß ich nervös zu Hause. Was, wenn Mutter einem meiner Bekannten begegnete, jemandem, der Mutter kannte? Wie zum Beispiel Irene? Aber Mutter erzählte mir zumindest niemals von jemandem, und niemand berichtete mir von einem solchen Zufall. Während des Besuchs spannten sich meine Muskeln bis zum Krampf. Was, wenn unsere Besucher auf dem Hof jemanden sahen, der mich abholen wollte? Oder wenn plötzlich Irene vorbeikäme, Irene, die immer für einen Überraschungsbesuch gut war?
Ich schaltete die Türklingel ab. Was, wenn.
Und trotzdem freute ich mich irgendwie über die Gäste, wenn sie unseren Zentralstaubsauger untersuchten und mit den Kaffeetassen klirrten. Nicht deshalb, weil ich gern die auf typisch finnische Weise perfekt funktionierende Heizung in unserem Haus oder die Fernbedienung des Videorekorders, die ebenen Wege oder das Bekleidungshaus Seppälä mit seinem weißen Fußboden hätte vorstellen wollen. Ich freute mich einfach so. Als beobachtete ich, wie mein behindert geborenes Kind gehen lernte.
ALS
ANNA
AUFHÖRT , in Finnland warmes Essen zu sich zu nehmen, hört sie auch anderswo damit auf, obwohl sie früher gern in den besten Restaurants von Tallinn, im Viru, im Gloria und im Astoria bei Kiewer Koteletts und Soljanka gesessen hat. Stattdessen beginnt sie, auf ihren Estlandreisen in einem solchen Tempo Gebäckstücke zu verzehren, dass man glauben könnte, in ihrem einen Kopf befände sich ein Dutzend Münder.
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