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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
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kommen nur Frauen der einen Sorte.
    Hast du gar keinen Selbsterhaltungstrieb?
    Dummkopf. Genau diese Gutgläubigkeit braucht der KGB .
    Mutter kann den Gedanken nicht ertragen, dass Irene sofort in Schränken Regalen Kammern herumschnüffeln würde, sobald sie ihr den Rücken kehrt. Und garantiert im Haus Wanzen anbringt.
    Aber wir haben doch nichts zu verheimlichen, Mutter, oder?
    Das Balg dieser Hure kommt mir nicht ins Haus! Ist das klar?
    Irenes Mutter war die Frau mit der warmdunklen Stimme, die sie zum Kaffee eingeladen hatte und so bemüht gewesen war, sich mit ihr anzufreunden.
    Wenn das nun ein Irrtum ist, wenn das nun jemand anders war?
    Damals gab es im ganzen Land nicht viele Leute von jenseits der Grenze, geschweige denn in derselben typisch finnischen Kleinstadt.
    Aber wenn Mutter sich nun trotzdem irrt?
    Nein. Jene Frau mit der warmdunklen Stimme führte genau dieselben Reden, erzählte dieselben Geschichten und von denselben Lebenserfahrungen. Sie hat in derselben – zu kurzen – Zeit die finnische Staatsbürgerschaft bekommen, und schon eine Woche darauf kamen die Eltern der Frau ihre Tochter besuchen … wo man doch in so kurzer Zeit nicht einmal die Papiere hätte beschaffen können! Die Frau, die mit der warmdunklen Stimme, hat genau dieselben Geschichten erzählt.
    Willst du behaupten, das sei nur Zufall? Anna!

    Aber Anna hat Irene gern und lieber als alle anderen, und die Reden der Mutter haben darauf keinen Einfluss, und auch nicht die Art, wie Irenes Mutter sich verhält und was sie sagt. Anna ist es letztlich egal, auch wenn Irenes Mutter Anna danach fragt, obwohl Irene niemals danach gefragt hat. Tatsächlich hat Anna Irene ganz gegenteilige Geschichten erzählt, und dann fragt Irenes Mutter plötzlich danach in dem Auto, in dem außer Irene und Anna und Irenes Mutter auch deren neuer Freund und Irenes Schwester sitzen. Sie fragt gleichsam beiläufig, aber unmissverständlich genug, damit Anna die Frage nicht unbeantwortet lassen, sie übergehen kann. Wie gut Anna eigentlich Estnisch könne.
    Anna antwortet ausweichend, sie könne wohl ein bisschen, und mehr wird sie nicht gefragt, niemand spricht mehr über das Thema. In Annas Adern sticht es wie mit Eisnadeln, ihre Haut ist nass von kaltem Schweiß, und ihre Lippen sind erstarrt. Will jemand sie noch etwas fragen? Haben sie vor, nach Mutter zu fragen? Wenn Anna ihnen eine Lüge auftischte, würde Irenes Mutter dann die richtigen Antworten wissen und sagen, dass Anna sich das jetzt ausgedacht habe, warum eigentlich? In Finnland glaubte man doch nicht, dass irgendetwas wahr sein konnte, was in der Sowjetunion wahr war, sie könnte doch nicht sagen, die Sicherheitspolizei habe es verboten, oder dass Mutter Angst habe, oder dass sie glaubten, Irenes Mutter sei eine KGB – Agentin.
    Obwohl niemand in dem kleinen Auto mehr über das Thema spricht, sondern über die Schule, die Lehrer und die Nachbarn – normales Geplauder –, fühlt Anna sich ausgezogen, bloßgestellt, geschändet, betatscht mitten am Tag an einem öffentlichen Ort, denn Anna ist erwischt worden. Irenes Mutter wollte nur, dass Anna und Annas Mutter wissen, dass sie Bescheid weiß. Dass sie die Frau ist, die vor Jahren behauptete, Mutters Telefonnummer von der Sicherheitspolizei bekommen zu haben, und die Mutter zum Kaffee eingeladen hatte, zu dem sie niemals erschienen war.

    Aus Irene wird in der Schule und auf dem Hof die Russenfotze oder die Russenmöse; ihre Mutter spricht auf den Elternabenden mit lauter Stimme gebrochenes Finnisch und lernt alle anwesenden Eltern kennen. Es scheint Irene nicht zu stören oder aus dem Gleichgewicht zu bringen, dass die ganze Schule sie als Russin kennt. Und Irene verrät Anna nie. Auch dann nicht, wenn sie zerstritten sind, nicht an den schlimmsten Tagen und nicht in den wütendsten Augenblicken, niemals, obwohl sie sonst eine böse Zunge und ein hinterhältiges Wesen hat. Nicht einmal bedeutungsvolle Blicke oder Anspielungen zwischen den Zeilen, nein, selbst als Anna trotz Irenes Anstrengungen weniger wiegt, als Irenes Mutter darüber anzügliche Bemerkungen macht und ihrer Tochter empfiehlt, sich ein Beispiel an Anna zu nehmen.
    Dann fühlt Anna sich schlecht für Irene, aber sie kann Irenes Mutter gegenüber nicht ausfallend werden, und sie kann auch zu Irene, die nur ausdruckslos guckt, nichts sagen. Anna findet auch dann nicht die richtigen Worte, wenn Irenes Vater nicht nur Irenes Zeugnis, sondern auch das von Anna sehen will

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