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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
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Trikothemd, schwarze, enge Hosen und an den Füßen chinesische Samtballerinas. Ich war elf Jahre alt, eins sechzig groß und wog 53 Kilo. Ich hatte braune, glatte Haare und kaum Make-up. Im Gesicht hatte ich zu wenig Farben, um eine Russin zu sein, war aber nicht finnisch genug gekleidet – ich war nicht mehr bereit, die Kleider, die verkauft werden sollten, anzuziehen, sondern wollte meine eigenen. Andererseits ging ich auch nicht als estnisches Mädchen durch, denn ich hatte nichts, was hinreichend weiblich war, hochhackige Schuhe oder Minirock. Und ich hatte auch nicht das, was Mutter als »Visitenkarte« der betroffenen Frauen bezeichnete, ein Kind, das gerade laufen gelernt hatte und das seine Mutter und deren Freunde begleitete. Und es stimmte, es gab dort unter den Frauen immer ein paar Kinder, vielleicht bedeuteten die Kinder eine Art Schutz – eine Mutter, die ihr Kind ausführt, konnte keine Hure sein –, oder vielleicht gab es für das Kind einfach keinen Pflegeplatz und keine Pflegerin, und die anderen Mädchen beaufsichtigten das Kind, während die Mutter etwas anderes zu tun hatte.
    Aber ich war jung, von zierlicher Statur und trotzdem weiblich genug, sodass ich auch keine finnische Plattfußfrau sein konnte, auch war die Bluse im Jahr 1988 etwas zu knapp für die eines finnischen Mädchens und an einem Ort, wo Ausländer unterwegs waren.
    Ein klarer Fall also.
    Wie viel?

    Die Autos, die in Kallio neben mir hielten, und die Blickkontakt suchenden Männer störten mich nicht, obwohl, wie ich hörte, andere in entsprechende Situationen geratene Frauen sehr aufgebracht waren. Ich war es nicht. Mir kam es gar nicht in den Sinn, dass ich darüber böse sein könnte. Für mich war das ebenso normal, wie auf der Straße ein aufgegangenes Schuhband zu binden; das hat man nach einer Stunde vergessen. Mal abgesehen davon, dass ich in Kallio nicht einmal stehen blieb, um mir den Schnürsenkel zu binden.
    Ich sah niemanden an.
    Ich wandte den Kopf nicht in Richtung Straße.
    Ich ging zügig, den Blick zu Boden gerichtet.
    Ich hatte immer mehr Taschen als nur eine Handtasche.
    Ich verabredete nie einen Treffpunkt auf der Straße und war nicht bereit, draußen auf jemanden zu warten, der mich mit dem Auto abholen wollte. Ich wurde auch bei Eisglätte nicht langsamer. Ich blieb nicht stehen, wenn man mich ansprach. Ich beachtete es nicht, wenn jemand mich nach dem Weg, nach der Uhrzeit oder sonst irgendetwas fragte, wenn jemand sich angeblich verfahren hatte oder eine Zigarette kaufen wollte.
    Ich ging nicht zu nahe an der Fahrbahn und benutzte Abkürzungen, egal, in was für einem Zustand sie waren, denn die Prostituierten nahmen immer den längsten Weg.
    Ich war auf dem Heimweg.
    Der war mir vertraut, den kannte ich.
    Ich war nicht mehr in einer fremden Stadt.
    Ich erkannte die Prostituierten auf den Straßen von Kallio wie alte Bekannte, bevor ich auch nur ein einziges russisches Wort gehört hatte, manchmal, noch bevor ich sie überhaupt gesehen hatte, es genügte mir, die langsamen Hurenschritte, die zögernden Absätze zu hören. Die Mädchen sahen auswie Frauen mittleren Alters und waren zu zweit unterwegs. Im Winter trugen manche einen Pelz, die meisten aber eine Steppjacke. Manchmal setzten sie sich auf das Treppengeländer des Kinapori-Parks. Und warteten. Beobachteten die vorbeifahrenden Autos. Standen wieder auf, um weiterzugehen, wenn sich ein Polizeiauto näherte.
    Dieses gewisse Etwas. Vielleicht lag es an den Haaren. Manche waren zu lang, um als Kurzhaarfrisur einer gleichaltrigen finnischen Frau durchzugehen, oder zu buschig, um als lange Haare einer gleichaltrigen Finnin gelten zu können. Oder vielleicht lag es an dem leichten Schnurrbart. Oder daran, wie zwei Russinnen nebeneinandergingen. Vielleicht lag es tatsächlich an der Gangart. Am Wiegen der Hüften. Im Bahnhofstunnel promenierten die jungen russischen Mädchen Arm in Arm, so als wären sie immer noch in Moskau. Die Mädchen von Kallio spazierten nicht auf russische Art Arm in Arm, aber vielleicht taten sie es trotzdem irgendwie unsichtbar. Vielleicht witterte man, dass sie daran gewöhnt waren. Vielleicht sah man ihnen an, dass sie so gehen würden, wenn sie nicht beruflich unterwegs wären.

1973
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