Stalins Kühe
ich, wenn ich abgelehnt hätte, gefragt worden, ob ich irgendeine Diät mache, obwohl ich dafür berühmt war, dass ich auch den größten Mann unter den Tisch essen und dennoch klein und zierlich bleiben konnte und in jedermanns Arme passte und mir meine Kleider unbesorgt im Schlussverkauf holen konnte, wenn nur noch die kleinsten Größen übrig waren. Und ich brauche sie nicht mal zu ändern. Sie sahen sowieso immer fabelhaft aus.
Ich würde also einen Bonbon nehmen müssen. Ein Stück. Und den Rest Saara zurückgeben. Diese Schadenfreude, diese spöttischen Blicke von den Anwesenden, die sich auf mich richten würden, wenn ich das nicht täte. Ätsch, du bistgar kein Sonderfall, auch du musst auf dein Gewicht achten. Ätsch, und du, die du dir immer eingebildet hast, diese Angst vor den Kilos nicht zu kennen, was sagst du nun? Du bist genauso wie wir anderen.
Ich nahm das Sahnetoffee schnell und steckte es noch schneller in den Mund. Ich war zu schnell. Das wusste ich, doch niemand achtete darauf. Ich konnte mich nicht mehr auf das Gespräch konzentrieren, alle meine Zentren waren sofort in meinem Mund, in den Zähnen und deren Schmerzen, unter der Zunge, auf der Zunge, in der Zunge, die das Toffee hin und her schob, das vertraute, alte Gefühl, so als wäre ich wieder in mir selbst zu Hause, gleich beginnt die nächste Vorlesung, aber das alte, vertraute Gefühl, der vertraute, alte, böse Geist, der mich in Beugen und Weichen kitzelt und wispert, komm, meine Liebe, komm, der mir den Nacken leckt, egal, welche Vorlesung ansteht, jetzt half keine Zigarette mehr und keine Konzentration auf etwas anderes, unmöglich, es gab keine Konzentration mehr, es gab nur die Besessenheit, die den Beinen befahl, von hier fortzulaufen und weiterzumachen, weiterzumachen endlos weiterzumachen mit dem Essen und dem Essen und dem Essen und endlos die Kiefer zu bewegen, zu schlucken, den Mund für den nächsten Bissen zu öffnen und wieder für den nächsten, immer von Neuem, bis ich so tief eingeschlafen wäre, so tief wie niemals und nirgends zuvor, so tief, dass da nur Schwarzes und Weiches war, so eine umfangende Dunkelheit, in der es nichts Beängstigendes gab, nur Frieden.
Das Toffee löste sich überraschend langsam im Mund auf. Konnte es nicht schon verschwinden? Zerbeißen konnte ich es nicht, dann wäre ich verloren. Jetzt gab es noch eine Alternative, eine sehr kleine, dünne, aber immerhin. Wenn ich den Bonbon jetzt sofort ausspucken und mir die Zähne putzen und den lieblichen Geschmack in meinem Mund beseitigen würde, wenn ich das sehr schnell täte, konnte ichdurchaus in der Lage sein, den anderen in die Vorlesung zu folgen und munter dazusitzen und lebhaft und aufmerksam und kompetent und energisch mitzuschreiben. So musste ich es machen, endlich einmal. Ich schlüpfte in die Toilette und spuckte den Wonnigen aus und putzte mir fanatisch die Zähne, für solche Fälle hatte ich immer eine Zahnbürste bei mir, ich putzte gründlich, obwohl die Zahnschmerzen mir fast den Schädel spalteten, in den Mund noch eine Pastille mit zwei Kalorien, gesüßt mit Aspartam und deshalb sicher, erfrischend und mit Pfefferminzgeschmack, und schon lief ich zur Vorlesung.
Sie hatte schon begonnen, ich ging an meinen Platz und fand mich gleich in das Thema hinein, am Ende der Vorlesung erinnerte ich mich an jedes Wort, ich war siegesfreudig, und meine Schritte hin zu meiner Wohnung waren ein Tanz. Ich verweilte sorglos vor den Schaufenstern, lächelte meinem Spiegelbild darin zu, auf dem Weg durch den Park schnupperte ich am Wetter und betrachtete in der Nähe der Hundeauslauffläche die entgegenkommenden Hunde, meine Beine waren leicht und frei wie die einer frischverliebten Frau vor dem ersten Riss in der Beziehung. Ätsch. Ich hatte mich doch in der Hand. Ein Zweifel daran hatte mich geplagt, aber ich hatte bewiesen, dass er unberechtigt war!
Ich konnte mir sogar den Kommilitonen vorstellen, den ich ins Auge gefasst hatte. Ich kannte noch nicht einmal seinen Namen. Aber er hob die Schultern, die eine etwas mehr als die andere, nur ganz wenig, schob seine zur Faust geballten Hände in die Tasche und ging, die Füße ein ganz klein wenig einwärtsgekehrt, ohne jedoch irgendwie blöd zu wirken. Dafür war er viel zu wach und flink. Gar nicht übel, obwohl er in der Mensa und auch beim Kaffee während des Essens anscheinend immer las. Das war schade, eine solche Gesellschaft würde meinem Essen nicht guttun, denn er würde es nicht
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