Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen

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ansammelten. Jetzt musste ich für den Müll große Plastiktüten kaufen. Die restlichen Apfelsinen verfaulten allmählich bei mir im Schrank, die Äpfel wurden ledern, durch den Foliendeckel des fettfreien Joghurts schoben sich Schimmelplacken. Ich vergaß dasEssen und konzentrierte mich auf das Ess-Brechen oder auf das Hungern. Das war viel leichter, als die Balance zwischen Tagen mit sicherem Essen und Bulimietagen zu halten. Es ist weitaus angenehmer, eine Bulimiesitzung von zwei oder nur einer Stunde abzuhalten, als den ganzen Tag damit zu verbringen.
    Schnell wurde ich im Erbrechen eine Professionelle. Man könnte fast sagen, dass ich über diese Begabung von Anfang an verfügt hatte, sie aber jetzt erst zur Geltung kommen ließ. Das geräuschlose Erbrechen war leicht, und wenn ich es bald genug nach dem Essen tat, stank das Erbrochene nicht einmal. Ich kann ganz gut auch in öffentlichen Toiletten erbrechen. Und zum Beispiel in Kneipen erbrechen sich betrunkene Menschen ja immer. Als ich keine Tage mit sicherem Essen und Tage mit Bulimie mehr veranstaltete, von denen ich im ersten Jahr höchstens vier pro Woche hatte, gewöhnte sich meine Kehle so daran, dass man meiner Stimme nicht mehr anhörte, ob ich mich erbrochen hatte oder nicht. Für den Fall, dass mein Herr mir eine Schwellung der Speicheldrüsen verursachen sollte, wie behauptet wurde, und damit ein Anschwellen der Wangen, überprüfte ich in regelmäßigen Abständen mein Gesicht sorgfältig und fotografierte mich auch, bemerkte aber nichts Besorgniserregendes. Nur meine Wangenknochen waren besser zu sehen als fünfzehn Kilo zuvor.
    Manche sagen, dass man von Bulimie nicht abnimmt, dass von dem Essen auf jeden Fall etwas im Organismus bleibt, und weil das Bulimie-Essen meist kalorienreicher ist, bleibt das Gewicht unverändert. Das ist in gewisser Weise wahr. Wahr ist aber auch, dass das Abnehmen ausgezeichnet funktioniert, wenn man nichts von dem im Magen behält, was man isst. Keine normalgewichtige Bulimikerin bringt alles wieder heraus, was sie gegessen hat. Ein Vorteil ist auch, dass, wenn man zu fettiger Haut und Pickeln neigt, deren Entstehung von fettem Essen, Gewürzen und Käse begünstigt wird, man durch Bulimieren erreichen kann, dass die Haut in Ordnung bleibt.
    Eine Freundin von Irene musste mit dem Bulimieren aufhören, weil sie statt eines Waschbrettbauchs rote Augen bekam; das Erbrechen bewirkte bei ihr, dass periphere Äderchen sowohl im Gesicht als auch in den Augen platzten. Marisa versuchte es eine Weile mit Augentropfen, aber die wirkten nicht gut genug, und die Kollegen am Arbeitsplatz, einem Kindergarten, begannen auf mögliche Drogenprobleme anzuspielen. Nur einmal noch wurde sie schwach. Für die Kinder gab es Apfelkuchen und für jedes Kind ein eigenes Stück, das Marisa viel zu groß für die Kleinen fand, und so halbierte sie die Stücke, aß selbst die anderen Hälften und begab sich dann im Eilschritt zur Toilette. Das nannte Marisa einen Rückfall. So habe ich meine Essrituale niemals empfunden. Für mich sind sie reine Entspannung. Wie kann Entspannung ein Rückfall sein? Und wenn das die alltägliche Art zu essen ist, gibt es keine anderen Arten mehr.
    Mein einziges Problem war bald nur noch die Frage, wie ich meinen außer Rand und Band geratenen Herrn in der Öffentlichkeit im Zaum halten konnte. Er wurde völlig unmöglich. Unbeherrschbar. Der Chef. Der mich ständig verlockte, mir alles Mögliche zuraunte und mich in unmögliche Situationen brachte. Mich mit langer Zunge am Magen kitzelte. Komm, meine Liebe, komm …

DIE
GEFÄHRLICH
KNISTERNDE Bonbonpackung kam auf mich zu. Was ist da für eine Süßigkeit drin? Saaras Hand hielt sie mir hin, Saara war im gleichen Semester wie ich, und das Gespräch ging weiter, so als geschähe gerade nichts Besonderes, so als würden wir hier nur über dies und das und jenes plaudern, und dann kam die Tüte näher, bei den anderen war sie schon gewesen, und sie hatten unbekümmert eine Pastille oder ein Stück Lakritze genommen – man stelle sich vor, nur eines! – und es in den Mund gesteckt, und jetzt lutschten sie dieses eine, oder manche zerkauten es so, dass es krachte, und die Tüte war schon in meiner Hand, und ich hätte gern abgelehnt, denn ich würde nicht imstande sein, mich mit einem einzigen verdammten Bonbonkrümel zu begnügen. Aber in der Tüte befanden sich neben anderen Süßigkeiten auch Sahnetoffees, und Sahnetoffees waren für mich –
    Außerdem wäre