Stalins Kühe
Anette verstummt?
Anette war ja nicht stumm.
Aber sie sagte nichts anderes als Ja und nickte, Ja zu allem. Oder »ja, hör auf«.
Anette hatte einen bösen Mann. Noch dazu einen vollkommen roten.
Warum hat Anette ihn nicht verlassen?
Was ist denn das für eine Frage? Anette hätte ihren Mann niemals verlassen. So eine Frau war Anette nicht. Und das hätte Anette auch gar nicht gewagt. So ein schrecklicher Mann war das, der Konstantin.
Auf welche Weise schrecklich?
Schrecklich.
ALS
IRENE
NACH Helsinki gezogen war, besuchte ich sie regelmäßig, und ebenso machte Irene Besuche im typischen Finnland. Ich erstickte fast an meiner Sehnsucht nach ihr, an meinem Dasein in der typisch finnischen Kleinstadt ohne Irene. Mein Verhältnis zu meinem Herrn und Liebhaber war in jenen Jahren nicht mehr so glorreich wie früher, nicht immer ein so großes Gefühl von Macht und von der Aufhebung aller Gesetze der Physik, wenn ich in meinem Zimmer lag und mir entweder vor Hunger oder nach einer Fressorgie den Bauch hielt. Im Grunde war es allmählich sogar schon allein deswegen sehr unangenehm, weil ich nicht allein wohnte. Mit anderen zusammenzuwohnen unterwirft dieses Verhältnis ganz eigenen Regeln, ob es jetzt um einen Menschen oder um Nahrungsmittel geht. Mein Herr verlangte jetzt eine eigene Wohnung. Auch deswegen musste ich umziehen.
Die Tatsache, dass ich meine Einzimmerwohnung allein bewohnte, entband meinen Herrn auch von den letzten Beschränkungen. Ich kaufte selbst meine Lebensmittel ein. Ich machte mir selbst Essen. Nicht nur manchmal, sondern immer. Ich hätte mich mit aller Kraft auch in den Konsum anderer Drogen gestürzt, aber für mich ging immer eine über alle anderen.
Da machte ich es zum ersten Mal.
In meiner eigenen kleinen Toilette befreite ich mich selbst von der unausweichlichen Regel, dass die überschüssigenKalorien sich in meinem Körper als Fett ansammeln, von der Regel, wegen der ich, seit ich zehn Jahre alt war, mir ein Kilo abgehungert hatte, um es mir gleich wieder anessen zu können.
Da ich allein lebte, war es sehr leicht, damit anzufangen.
Niemand wunderte sich darüber, wie oft ich am Tag die Toilette putzte.
Niemand hörte, sah, roch es.
Die Menschen um mich herum führten ein ebenso unregelmäßiges Leben wie ich. Niemand wusste etwas über den Verlauf meiner Mahlzeiten.
Ich nannte das Freiheit.
Studentin im ersten Studienjahr. Das erste Jahr fort von zu Hause. Alle Tage und Nächte die Möglichkeit, allein Fressorgien zu veranstalten. Da macht es keinen Spaß mehr, wochenlang von Kaffee und Kohl zu leben. Gurken, Radieschen und Tomaten hatte ich satt, ich hasste fettfreie Brühe und zuckerfreie Dietorelle-Bonbons, bei dem Gedanken an ein Salatblatt wurde mir übel. Die Fun-Light-Säfte ekelten mich so an, dass ich sie nicht einmal für Mixgetränke verwenden konnte.
Und ich hatte Irene satt.
Viel zu viele Jahre hatte ich mich mit all dem arrangieren müssen.
Ich wollte nach Herzenslust in all dem Essen schwelgen, auf das ich Lust hatte. Jetzt hatte ich noch die Möglichkeit dazu. Gänzlich zu verwildern. Mich einfach treiben zu lassen.
Und ich ließ mich treiben. Ohne Irene.
Irene war nicht zum Studium zugelassen worden.
Ich war in die Universität aufgenommen worden, natürlich, sofort und dort, wohin ich gewollt hatte.
IM
ZWEITEN
JAHR hatte ich keine Lust mehr, mich auch nur einen einzigen Tag in der Woche nach der Liste der sicheren Speisen zu richten.
Irene war immer noch nicht zum Studium zugelassen worden und hatte auch im Jahr zuvor schon nicht mehr als Maßstab meines Essens getaugt. Wir sahen uns nicht jeden Tag, wir gingen nicht zusammen essen. Irene fühlte sich an den Wochenenden in den Bars nicht wohl, ich fühlte mich wohl. Irene wollte die anderen Leute, die einen Studienplatz bekommen hatten, nicht sehen, ich wollte das. Irene wollte in einem Vorort wohnen, ich im Zentrum. Ich wollte mich in Cafés und Geschäften aufhalten, Irene nicht. Ich hatte lediglich flüchtige Affären, Irene war mit einem Jüngelchen zusammen, das vermögende, in den Randgebieten von Typisch-Finnland wohnende Eltern hatte. Irene fuhr mit dem Jüngelchen zum Zelten in die Randgebiete von Typisch-Finnland, ich verbrachte die Mittsommerfeste und Silvester in den Bars von Helsinki.
Ich konnte mit Irene nichts mehr anfangen.
Ich schaffte die Vorräte von sicheren Nahrungsmitteln ab. Früher tat ich den Müll immer in die Plastiktüten von Obst, weil andere sich bei mir kaum
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