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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
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bemerken, wenn ich immer alles auf dem Teller liegen ließ oder es in meine Handtasche kippte, undich würde den Eindruck haben, dass es ihm völlig egal war. Keine gute Alternative.
    Moment mal. Wie war das doch? Eine solche Gesellschaft würde meinem Essen nicht guttun! Was denn dann für eine? Eine, die das Essen nur mir selbst überließe. Aber hatte ich nicht genau die gesucht?
    Das war das letzte Mal, dass ich es schaffte, eine Essorgie abzublasen, nachdem ich etwas in den Mund gesteckt hatte, das auf der schwarzen Liste stand.

DIE
DINGE,
DIE mit meinem Herrn zu tun hatten und die ich Irene nicht erzählte, waren inzwischen so zahlreich, dass wir eigentlich nichts mehr zu besprechen hatten.
    Je herrischer und allumfassender mein Herr wurde, umso weniger war ich daran interessiert, das vor anderen als meinen Familienangehörigen zu verheimlichen. Ich hatte Bulimie, na und? Irene hätte ich das jedoch nicht erzählen können, und deshalb war in meinem Leben nicht mehr für beide Platz, für meinen Herrn und für Irene. Eines von beiden musste ich fallen lassen. Wenn Irene mehr Zeit mit mir verbracht hätte, hätte ich es ihr vielleicht erzählt, aber wir trafen uns so selten, dass es leichter war zu vergessen, das zu erzählen, und nach einiger Zeit war es vollkommen unmöglich geworden, es zu erzählen.
    Komm, Liebling …

1974
    Katariina erinnert sich an die Worte ihrer Freundin Anne: Aus dem Heimatland geht man nicht fort, von dort wird man fortgebracht.
    Eine andere Freundin, Monika, hat von Katariina Geld geliehen, aber sie zahlt es nicht zurück, obwohl Katariina zu ihr geht, um sie direkt darum zu bitten. Monika ist der Meinung, Katariina schwimme im Geld, weil sie einen finnischen Freund hat und nach Finnland ziehen will. Katariina brauche ihre Rubel nicht.
    Bei Katariina zu Hause wird nichts zugunsten des Finnen gesagt, aber auch nichts gegen ihn. Nach Anette fragt Katariina nicht mehr. Auch nach nichts anderem, wie zum Beispiel nach August.

DIE
MENSA
DER Universität. Wahnsinnig viele Menschen – viele Bekannte. Ich hätte gern allein gegessen, aber das war nicht möglich. Es war schwierig, das Tablett in den Händen zu halten, denn ich musste so viele Dinge gleichzeitig tun. Ich musste imstande sein, mich ungezwungen mit den anderen zu unterhalten und gleichzeitig zu essen. Ich durfte nicht schlingen wie eine Bulimikerin, das würde Verdacht erregen oder zumindest Aufmerksamkeit, aber auch die Mäkelei der Anorektikerin, das Verstecken des Essens und das Herumstochern auf dem Teller würden nicht gehen. Das Essen musste möglichst unauffällig geschehen, dann war es natürlich, nicht wahr? Wie geht das?
    Ich passte mein Essen nacheinander dem Rhythmus jedes meiner Tischgenossen an. Dann bemerkte niemand, dass ich mit ihm im selben Takt aß. Manchmal kam ich mit dem Rhythmus durcheinander und hatte fast alles aufgegessen, obwohl die anderen noch die Hälfte ihres Essens auf dem Teller hatten. Unmöglich. Ich musste entweder sofort hinausgehen oder mir Nachschlag holen. Wenn ich nun ausprobierte, wie es sich anfühlte, die Mensa zu verlassen und zum Beispiel eine rauchen zu gehen? Aber die anderen aßen noch. Ich durfte mich nicht von der Gruppe absondern. Sonst konnte es passieren, dass ich nach Hause ging und in aller Ruhe noch mehr aß. Ich musste also am Tisch bleiben. Warum aßen die anderen so langsam? Die Gabeln bewegten sich so gemächlich durch die Luft, dass ich hörte, wie ihre Zinken die Luft durchstachen und sich knirschend daranrieben. Das Klappern und Klirren der Messer, die ständigen Geräusche der Lanzen versuchten mich vom Stuhl zu werfen. Ich musste aufstehen und mir noch etwas holen. Das sichere Gewicht eines vollen Tellers in den Händen. Ich hätte gern schon auf dem Weg zum Tisch angefangen zu essen und statt einiger Scheiben Brot einen ganzen Laib unter den Arm genommen und einen zweiten in die Tasche gesteckt, damit ich nicht gleich von der Tür der Mensa in ein Geschäft zu stürmen brauchte, damit die kontinuierliche Verfügbarkeit von Essbarem gesichert und ich imstande war, dazubleiben und mich mit den anderen zu unterhalten.
    Wie würde ich die Nachmittagsstunden überstehen? Ich musste dasitzen, so tun, als wenn nichts wäre, und Notizen machen, obwohl die Beine die ganze Zeit nach Hause strebten, damit ich weiteressen konnte, oder ich musste in die Damentoilette gehen, um das von mir zu geben, was ich schon im Magen hatte. Ich holte mir noch mehr Brot. Einige, mit

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