Stalins Kühe
denen ich irgendwann etwas gehabt hatte, saßen an einem Tisch in der Nähe, aber ich wagte es nicht, zu ihnen hinzuschauen und zu grüßen, weil ich Brot in der Hand hatte und mein Magen es die ganze Zeit anzog.
Ich bürstete meine Nagelhaut rhythmisch und energisch in der Toilette der Universität. Sofort fühlte ich mich entschlossener. Vielleicht war dies das letzte Mal, zumindest in dieser Woche. Zumindest heute. Zumindest im Moment. Nach der Bearbeitung mit der Nagelbürste schimmerten meine Fingerspitzen in einer gesunden, rötlichen Farbe, und dann wusch ich mir die Hände noch einmal. Ich roch an meiner Nagelhaut, beschnüffelte wie ein kleines Tier jeden Finger einzeln und dann noch beide Seiten der Handflächen und die Haarspitzen. Ich versuchte auch meine Kleidung zu überprüfen, damit kein verdächtiger, stinkender Spritzer darauf verblieb. Küchen-Bemina war das einzige Mittel, mit dem man den Geruch von Erbrochenem vollständig von denHänden abbekam, aber das hatte ich nicht mit. Ich musste mich mit gewöhnlicher Seife begnügen. War ich schon in der Verfassung, hinauszugehen? Oder sollte ich die Hände noch einmal waschen? Die Zähne hatte ich schon geputzt, mit Mundwasser gespült und wer weiß wie oft gegurgelt. Dennoch spürte ich den Geruch noch in der Nase. Den Geruch des Geruchs. Aber ich wusste nicht, ob ich ihn nur in der Nase hatte oder an mir selbst, oder ob daraus schon mein Eigengeruch geworden war. Zur Sicherheit schneuzte ich mir noch die Nase, und in dem Papier erschienen einige Leinsamenkörner. Die stammten aus dem Brot. Aus dem Brot, das so lecker und weich und frisch war und das von der Butter so gut duftete.
An einem Ärmel war ein winziger Fleck. Ich roch daran. Ich konnte es nicht sagen. Vielleicht. Oder vielleicht rührte der Fleck von etwas anderem her. Von etwas, das nicht stank. Von etwas, das mein Tun nicht verriet. Konnte ich meiner Nase vertrauen, oder sollte ich den Fleck entfernen? Natürlich musste ich vor allem sichergehen. So zog ich die Bluse aus und ging zum Waschbecken, um sie zu säubern. Jemand kam zur Tür herein. Ich hob nicht den Kopf. Der Jemand grüßte. Ich war in meine Bluse vertieft. Und rief, ich hätte meinen Ärmel in die Suppe getaucht. Danach lachte ich. So was kommt vor. Ich sah die Person nicht an. Die Tür der Kabine schloss sich. Ich betrachtete mich im Spiegel. Wirkte verweint. Auch das noch. Dann fiel mir ein, dass ich vorhin gar keine Suppe gegessen hatte. Das war aber unachtsam von mir. Die Bluse war nass, aber was sollte ich tun? Ich steckte mir noch eine Pastille in den Mund. Und verließ den Raum, bevor die andere zum Händewaschen kam und sich vielleicht erinnerte, dass ich heute gar keine Suppe gegessen hatte.
Von dem, was ich getan hatte, durfte keine Spur zurückbleiben und würde es auch nicht. Niemand durfte etwas bemerken und würde es auch nicht. Damit meine Bulimarexie gesund und munter blieb. Sonst würde jemand versuchen, sie mir wegzunehmen. Deshalb ging ich zum Arzt. Um meine Bulimarexie behalten zu können. Falls ich ohnmächtig werden oder mein Gewichtsindex zum Beispiel auf zehn absinken sollte, käme ich ins Krankenhaus und könnte das nicht verhindern.
So weit bin ich gekommen: Ich muss mein Ureigenstes, meine Bulimarexie, retten. Ohne sie kann ich nicht leben.
20. 3. 1999
Der Arzt fragte mich, was meine Mutter von der Sache halte.
Ich sagte, sie wisse nichts davon.
Und mein Vater?
Er noch weniger.
Der Arzt war verblüfft. Wie war es möglich, dass nicht einmal meine Mutter etwas bemerkt hatte, obwohl ich diese Probleme mit dem Essen seit elf Jahren gehabt und den größten Teil dieser Zeit mit ihr in demselben Haus gewohnt hatte?
Ich sagte, ich habe selbst nicht gewusst, dass dies ein Problem sei. Der Onkel Doktor müsse doch wissen, dass erst die Bulimiker sich ihres Problems bewusst werden, die Anorektiker selten oder zu spät.
Damals, beim ersten Mal, stürmte ich einfach nur durch die Tür in die Stiftung für die studentische Gesundheitspflege, ich hatte mir meinen Besuch überhaupt nicht überlegt und wusste nur, dass ich extrem müde, unendlich müde, so müde war, dass ich nicht essen konnte und nicht sein konnte, ohne zu essen. Ich musste gehen, damit man mich nicht hinbrachte. Und dennoch war ich gleichzeitig sicher, dass man mich nicht ernst nehmen würde, ich vielmehr beweisen müsste, dass ich nicht einfach eine kleine Diät machte. Aber der Arzt gab mir sofort einen Termin bei einem
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