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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
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anderen Arzt, der auf Essstörungen spezialisiert war. Er erzählte mir, dass die Stiftung für die studentische Gesundheitspflege eine besondere Abteilung für die Behandlung von Essstörungen habe, zuder Allgemeinmediziner, Psychiater, Psychologen und auch ein Ernährungstherapeut gehörten. Aber was sollte ich mit denen machen? Ich gehe jede Wette ein, dass ich ebenso viel wie die geschätzte Gruppe von Essen und Essensmangel, von chronisch niedrigem Blutzucker, Hypoglykämie und Hypokaliämie, einem Kaliummangel im Blut infolge von Erbrechen, wusste. Die Folgen von all dem sind emotionale Störungen, Depressionen, Hypochondrie, Hysterie, Wutausbrüche und auch psychotische Zustände. Die Apathie nimmt zu, ebenso die psychische Gleichgültigkeit (außer gegenüber dem Essen), Energie und Vitalität nehmen ab, Arbeitsfähigkeit und soziale Fähigkeiten lassen nach. Ausgehungerte Menschen isolieren sich sozial und verlieren das sexuelle Interesse. Soll ich weiterreden? Es heißt auch, dass sie, ähnlich wie Flüchtlinge, sich nicht von dem Gefühl befreien können, von einer bösen Macht beschattet zu werden. Der Zustand des Ausgehungertseins führt zu einer Verrohung der Gefühle, der Sensibilität und anderer menschlicher Merkmale, er zerstört die Individualität. Genügt das?
    Also gut, ich willigte ein, somatische Untersuchungen zu absolvieren und was sonst noch nötig wäre, wenn ich nur nicht irgendwo stationär eingeliefert wurde. Das war das Wichtigste. Ich gab alles zu. Ich bekannte alles, was mit dem Essen zusammenhing. Ich legte meinem neuen Essarzt gegenüber stundenlang Essbekenntnisse ab. Ich war bekennend und erkennend. Mein Ziel war nur, meinen Herrn nicht so auf Touren kommen zu lassen, dass man mich durch eine Magensonde ernährte. Dann hätte ich nicht zur Gymnastik gehen, mich erbrechen oder anderes Wichtige tun können.
    Ich versprach, zu einer Blutuntersuchung ins Labor zu gehen.
    Zweiundzwanzig Stunden vor dem Labortermin begann ich auf die Uhr zu schauen. Gegen Mittag bat Saara mich,abends mit ihr auszugehen, und ich willigte ein und sagte Saara nichts von meinem Termin am nächsten Morgen.
    Bevor ich mich für den Abend zurechtmachte, rief ich Saara jedoch an, und dabei verplapperte ich mich und sagte, dass ich am nächsten Morgen einen Labortermin hätte. Sofort wollte Saara wissen, warum. Ich antwortete, es handele sich nur um eine Routine. Was für eine Routine? Und mir fiel nicht gleich eine Antwort ein. Saara sagte, dann könne ich doch nicht mit ihnen zusammen ausgehen. Ich dürfe ja am vorherigen Abend nach zehn Uhr nicht mehr essen und trinken, wenn ich am Morgen zur Blutprobe ginge. Ob das in der Überweisung nicht klar stehe? Bestimmt habe jemand darauf hingewiesen, als der Termin für mich gemacht wurde.
    Ich sagte, ich könne an einem anderen Tag gehen. So eilig sei das nicht. Saara wollte noch etwas fragen, aber ich legte schnell den Hörer auf. Dann rief ich sie wieder an und sagte, das Gespräch sei plötzlich weg gewesen, ich wisse nicht, warum, und während sie sich darüber wunderte, fragte sie nicht mehr nach Dingen, die sie nichts angingen.
    Ich konnte ganz gut ein andermal ins Labor gehen, um Urin- und Blutproben abzugeben, obwohl ich dem Arzt versichert hatte, ich werde den Labortermin ganz bestimmt in dieser Woche wahrnehmen. Und morgen war Freitag. Sodass auch diese Sache erledigt wäre. Ganz bestimmt. Unbedingt. Genau wie beim letzten Mal. Und bei dem Mal davor. Wie oft hatte ich doch versprochen, die Blutprobe abzugeben. Und wie oft war ich gegangen?
    Ich wollte einfach nicht wissen, nach was für Wasser mein Blut nach elf Jahren Esszirkus aussah, obwohl genau das abgeklärt werden sollte.
    Die erste Psychiaterin der Gesundheitsstiftung, die ich traf, war nicht auf Essstörungen spezialisiert. Ich begreife nicht, warum ich zu ihr geschickt wurde. Den Körper der Fraudurchlief ein Schaudern, als ich sagte, ja, meine Bulimie bedeutete, dass ich mich regelmäßig erbrach.
    Die zweite Psychiaterin schrieb in ihrem Gutachten, ich sei eine instabile Person und meine sexuelle Identität schwankend. Oder nicht eindeutig. Aber ich versuchte doch nur, auf mich selbst zu hören, weil das niemand sonst für mich tun konnte, auch meine dritte Therapeutin nicht, die niemals etwas sagte. Sie gab irgendwelche Töne von sich, nickte, aber sagte nichts und fragte auch nicht. Diese Psychologin war sonst eine angenehme Frau und wusch sich nach jeder unserer Begegnungen die Hände,

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