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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
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allerdings auch nach den anderen Patienten und nach dem Ende eines Telefongesprächs. Ich hörte bis auf den Korridor hinaus, wie ihre Armreife inmitten des Wasserplätscherns einen Augenblick lang energisch klirrten, dann trocknete sie sich mit derselben Energie die Hände ab, und die Armreife klingelten, obwohl sie sonst keinen Schmuck trug und obwohl sie für eine Frau ziemlich viril war.
    Die vierte war von derselben Sorte, die fünfte interessierte mich nicht mehr.

ICH
BRACH
DIE Therapie ab und ließ mir einen Termin bei meinem Essarzt nur dann geben, wenn ich neue Medikamente brauchte. Wenn ich auf andere Weise ein neues Rezept hätte bekommen können, wäre ich nicht so oft zur Gesundheitsstiftung gegangen. Zum Essarzt ging ich an sich gern. Ich legte immer nur eine Straße auf einmal und Stufe für Stufe zurück und brauchte kein einziges Mal kurz vorher umzukehren. Die meisten Anorektiker trinken vor dem Wiegen Wasser, um ihr Gewicht zu erhöhen, aber das tat ich nicht. Ich war immer etwas nervös, was die Waage anzeigen würde. Wenn es nur nicht dasselbe Gewicht war. Es sollte etwas in Bewegung sein. Ich wusste, dass ich niemals bis zu dem Punkt gehen würde, dass ich nur etwas über dreißig wog. Und das war keine Einbildung. Ich bin im Grunde doch eine Bulimikerin, und die Anorexie ist nur eine Zugabe, obwohl ich sie zuerst bekam. Ich war einfach nicht der Typ für dreißig, und deshalb brauchte ich mir vor dem Wiegen kein zusätzliches Gewicht zu verschaffen. Ich wollte nur, dass mein Gewicht sich wieder etwas verringert hatte. Dieses Gefühl. Das ist der Genuss. Natürlich setzte es voraus, dass es manchmal auch gestiegen war. Aber das machte den Genuss nur noch vollkommener und spornte mich an.
    Mein Essarzt hatte den sanften Blick einer Kuh und eine mitfühlende Stimme, in der jedes Wort gleichzeitig fragte, wie es mir ergangen sei, und er trieb mich niemals an, auch dann nicht, wenn die Uhr zeigte, dass die Zeit schon abgelaufen war. Oft verwandelte der Besuch den Alltag ineinen Feiertag. Zum Beispiel damals, als ich zum zweiten Mal bei ihm war und er mir vorlas, was er über meinen vorigen Besuch geschrieben hatte, das war in der Sprechstunde des diensthabenden Arztes gewesen, bei einem Akuttermin. Unmittelbar nach dem Lesen hatte der Essarzt beide Hände vor Mund und Nase gepresst und sie dort noch einen Augenblick gehalten, bevor er sich mir zuwandte. Ich war zufrieden. Diese Miene versprach jede Menge meiner Lieblingsmedikamente, Dutzende davon, vielleicht sogar Zehner, waren fünf Milligramm in dieser Situation nicht zu schwach? Diapam, Diapam, mein Liebster, dadam!
    Ich nahm die erste Diapam aus dem Blister, sobald ich die Apotheke verlassen hatte. Die Sonne hörte auf, meinen Augen wehzutun. Die würgenden Schlingen lösten sich lautlos. Wie wohl mir doch war, wohl und ruhig, so wohl.
    Ich ging eine in der Nähe wohnende Freundin besuchen, die nichts außer Joghurts und Eis essen oder Lollis lutschen konnte, so wie auch die anderen Speed-Jünger. Zwar hatte für mich auch Eis schon lange nicht mehr zu den sicheren Lebensmitteln gehört. Ich wollte mich jedoch mit ihr über die verschiedenen Eismarken unterhalten. Über die Joghurtsorten. Was konnte man nach einem solchen Gespräch anderes tun als einkaufen zu gehen, und wenn wir kein Geld hätten, dann müssten wir stehlen und dann nach Hause gehen und alles aufessen und die kalte und sanfte Masse erbrechen, die weder im Hals noch in der Nase unangenehme Empfindungen auslöste.
    Natürlich hätten die Diapam die Lage beruhigen sollen, sodass ich keine Lust gehabt hätte, das zu tun. Aber andererseits musste ich das neue Diapam-Rezept irgendwie feiern, und ich konnte nur durch Essen feiern. Manche brauchen dafür Schnaps, oder der Schnaps macht die Feier aus, anderen genügt es, die besten Kleider anzuziehen. Für wieder andere macht die Kirche den Feiertag aus. Meine einzige Kirche ist das Essen.

    Außerdem. Eis war ein Mediumessen, kein sicheres Essen, aber auch kein ganz gefährliches, nicht so gefährlich, dass man nach dem Beginn des Essens nicht wüsste, wann es enden musste, wenn nur Essbares vorhanden war. Ein endloses Schlingen würde es also nicht geben.

SCHLIEßLICH
BEKAM
ICH eine Überweisung zur Poliklinik für Essstörungen.
    Na gut, ich bin bereit, ein Esstagebuch zu führen, obwohl das völlig blöd ist – als wüsste ich nicht und erinnerte mich nicht, was ich gegessen habe und wann und warum, Herrgott, ich habe elf Jahre

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