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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
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lang Kalorien berechnet und für welche Nahrungsmittel das Geld reicht, ich weiß es ich weiß es ich weiß es wirklich selbst. Aber gut. Ich werde über meine Happen und meine Fressflashs ein Buch führen, in das ich die Kalorien nicht eintragen darf. Absurd. Ich trage sie ein, weil meistens die Kalorienmenge verrät, warum ich ein bestimmtes Essen gegessen habe. Wenn mein Esstagebuch euch jetzt etwas sagen soll, dann muss ich dort vermerken, dass ich zwei Tassen Optionskakao ohne Erbrechen nur deshalb getrunken habe, weil eine Tasse weniger als vierzig Kalorien enthält.
    Na gut, ich gehe zur Ernährungstherapeutin, obwohl das völlig lächerlich ist, so als wüsste ich nicht genug vom Nahrungskreis, so als beherrschte ich die Kalorientabellen nicht sicherer als das Einmaleins, und all das, was jedes einzelne Nahrungsmittel enthält und wie viel und was jemand von meiner Größe am Tag braucht. Natürlich weiß ich das, Idioten. Und dann sagten sie, es gebe kein anderes Mittel, als regelmäßig zu essen.
    Das geht nicht. Auf keinen Fall.
    Lächerlich.
    Sie sagen, dass ich wahrscheinlich fünf Kilo zu-, aber auchwieder abnehmen würde, wenn mein Stoffwechsel sich normalisiert habe und ich wahrscheinlich mehr essen würde als früher, aber mein Gewicht würde passend bleiben. So was erzählen die mir und bilden sich ein, dass ich auf derartige Absurditäten eingehen würde.
    Mein Gewicht würde nicht um fünf Kilo steigen. Wirklich nicht. Für keinen Augenblick.
    Die Poliklinik für Essstörungen interessierte mich also nicht mehr. Denn mich interessierte das regelmäßige Essen nicht. Das war ja so absurd. Ich würde nicht dann anfangen zu essen, wenn auf dem Zettel stand, jetzt wird gegessen. Noch dazu alle vier Stunden … Selbst dann, wenn ich in einer Bar oder zu Besuch oder in der Stadt war oder schlief. Oder gerade ein Essritual für später oder den nächsten Tag plante – dann aß ich vorher nichts, sondern ließ die Gier anwachsen, bis ich es einfach nicht mehr aushielt. Oder wenn ich gerade in diesem Augenblick in der Lage war, ohne Gedanken an eine Orgie nicht zu essen, und mich das nicht einmal schwach machte. Ich würde doch nicht für nichts und wieder nichts anfangen zu essen!
    Um meine Gesundheit kümmerte ich mich mit anderen Mitteln. Ich säuberte mir nach jedem Bulimieren die Zunge so, wie es in der Zahnfürsorge für Bulimiker empfohlen wird. Ich spülte lange mit Wasser nach oder mit Milch oder Mineralwasser, das ich übrigens nicht ausstehen konnte. Die Zähne putzte ich vorschriftsmäßig erst zwei Stunden später, damit der Zahnschmelz Zeit bekam, wieder hart zu werden. Da ich allein wohnte, war das kein Problem. Ich nahm ein ganzes Glas Vitamine jeden Tag nach dem Hauptbulimieren ein. Ich nahm Fluortabletten. Chrom, das die Gier nach Süßem dämpfen sollte. Vogels Artischocken-Mariendiestel-Extrakt zur Förderung der Verdauung und Ginkgo-Extrakt zur Verbesserung des peripheren Blutkreislaufs. Gefilus-Säfte zur Regulierung der Verdauung. Viel Kalk.

    Zwar war ich von der Anorexie voller blauer Flecke wie eine frisch Verliebte, die überall gegenrennt und sich an allem stößt, meine Muskeln schmerzten, und ich wusste nicht, ob das die Streiche der Bulimie oder des Speeds waren. Letzteres hatte ich einige Male ausprobiert, wirklich nur ausprobiert, nichts Regelmäßiges. Die Brüste schmerzten, das kam sicherlich von dem Speed am Tag zuvor, und sicherlich auch ihre Empfindlichkeit jetzt. Aber die Nase, woran lag es, dass mir die Nase lief und infolge des ständigen Laufens wund geworden war, an der Bulimie oder daran, dass ich mir ein paar Linien reingezogen hatte, ich hatte keine Vorstellung, tupfte mir nur Vaseline in die Nase und erzählte den Fragern etwas von Heuschnupfen.
    Ich musste noch etwas mehr tun. Die Diapam waren gut, aber nicht mehr gut genug. Mein Essarzt war gut, aber nicht gut genug. Nichts war genug. Nicht mal Speed, obwohl das ein alter Schlankmacher ist. Nicht Oxepam, Xanor, Tenox, Alprox, nicht Gras. Nichts genügte, um meinen Herrn im Zaum zu halten. Ich musste mich mehr bemühen, weitere Mittel suchen. Es musste noch etwas geben. Jemanden.
    Nichts und niemand war da, der mich dazu bringen würde, maßvoller zu essen.
    Etwas Gesundes.
    Jemand Gesundes.
    Jemand, der Probleme mit dem Essen hat? Oder jemand ohne Probleme?
    Was sagte der Herr?
    Ich musste etwas finden, das mich daran hindern würde, noch tiefer zu fallen. Jemanden, der sich um mich kümmerte und mich so

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