Stalins Kühe
darauf, sich zusammenzureißen, starrt sie nur an, kann das Wiedererkennen nicht verhehlen, kann nicht mehr sagen, Sofia habe sich geirrt, dass er jemand anders sei. Die schöne Sofia. Der Duft der Heuernte. Das Abbrechen der Holzzinken am Rechen. Richard repariert Sofias Rechen. Sofia hat wunderschöne Knöchel. Großer Gott, hilf!
Sofia lädt Richard zu Katariinas Hochzeit ein.
Richard weigert sich nicht, er kommt gar nicht darauf, sich zu weigern, sondern macht sich an Sofias Seite auf den Weg zur Domkirche. Er geht nur, lässt estnische Wörter fallen, die er seit Jahren nicht ausgesprochen hat und von denen er glaubt, er habe sie längst vergessen, denn Richard denkt jetzt auf Russisch und hört nur russischsprachige Sendungen und liest russischsprachige Zeitungen. Er könnte noch stehen bleiben und woanders hingehen, aber da passiert er die Pagari-Straße und geht neben Sofia den Toompea hinauf, er geht und geht einfach wie ein ordentlicher Soldat.
An der Pagari-Straße, im Gebäude des KGB gibt es so kleine Wandschränke. In einen davon wurde Richard zusammengefaltet hineingestopft und eingesperrt, um auf sein Verhör zu warten.
Sofia plauderte von diesem und jenem, Richard kommt nicht darauf, etwas zu fragen, er weiß nicht einmal mehr, dass er versuchen müsste, sich irgendwie so zu verhalten wie die anderen. Sofia sieht Richard verstohlen an – hat Richardim Krieg so schlimm die Nerven verloren, oder was ist hier los? Sofia kommt der Gedanke, dass Richards Verhalten daran liegen könnte, dass Sofia vor sehr, sehr langer Zeit, vor Ewigkeiten, in Richard verschossen war, dann aber Arnold geheiratet hat. Daran kann es nicht liegen.
Sofia erzählt nicht, wo Arnold ist oder warum er nicht hier ist. Richard fragt nicht.
Bei der Kirchentür verschwindet Richard in der Menge, Sofia wartet und sucht, aber findet ihn nicht, sondern muss mit den anderen Gästen in die Kirche gehen.
Warum hat Richard nicht nach Arnold, seinem besten Freund, gefragt, den er seit Jahren nicht gesehen hat? Na gut, er hat nicht gefragt, Sofia würde es schwerfallen zu erklären, warum Arnold nicht auf der Hochzeit seiner Tochter ist, das hat Sofia im Warenhaus nicht bedacht, weil sie so verdutzt war über das plötzliche Wiedersehen mit Richard. Aber trotzdem.
WIR
SCHAUTEN
FERNSEHEN auch dann gemeinsam, wenn jeder von uns bei sich zu Hause war, denn wir hingen gleichzeitig am Telefon und unterhielten uns während der Werbepausen, während eines Films oder einer Serie sagten wir nicht unbedingt etwas, nur manchmal ein paar Worte. Diskussionssendungen und Dokumentarfilme kommentierten wir schon häufiger und hechelten die Frisuren der Moderatorinnen durch. Mir kam das entgegen, weil ich mir dann zum Fernsehen nichts zu essen holte.
Morgens lasen wir am Telefon gemeinsam die Zeitung. Ich las Zeitung und berichtete, was da stand, denn Hukka bekam keine Zeitung. Auch das tat mir gut, weil ich dann keinen Zeitungslese-Beihappen brauchte.
Lebensmittel allein einzukaufen wurde für mich leichter, denn ich telefonierte dabei mit Hukka, und dadurch, dass wir uns unterhielten, konnte ich meine Route im Geschäft absolvieren, ohne in meinem Einkaufswagen Berge von Zirkusessen aufzuhäufen. Hukkas Stimme ließ die Lebensmittel weit weniger beängstigend wirken. Hukka war so erstaunlich, erschien mir wie ein Wunder, fühlte sich an wie Wind vom Meer, kam mir bekannt vor wie die Mohnfelder und der Wacholderduft von Saaremaa.
Irene fehlte mir nicht mehr.
MEISTENS
Aß
ICH jetzt in Hukkas Gesellschaft. So wurde es ganz einfach, eine Mahlzeit einzunehmen. Butterbrote mit Thunfisch, Schinken, Käse, Butterbrote aus dem Butterbrotgrill und karelische Piroggen, und niemals zu viel, sondern genau so viel, wie nötig war.
Ich wog achtundvierzig Kilo. Perfekt, und ich brauchte nichts anderes als Hukkas Gesellschaft und eine Zigarette zum Kaffee. Zu meinem sicheren Essen, auf das ich zurückgriff, wenn ich nicht mit Hukka zusammen war, gehörten nur Früchte. Aber ich hatte seit Wochen keinen Esszirkus mehr veranstaltet! Man denke! Freilich lutschte ich manchmal den ganzen Tag Mynthon-Pastillen, denn sie überdeckten wirksam den Hungergeruch, der mir aus dem Magen in die Nase stieg. Und wenn man sie lange genug lutscht, geht einem der Geschmackssinn verloren, der Gaumen wird fühllos, und das ist gut so. Außerdem enthält die ganze Schachtel nur achtzig Kalorien. Allerdings steht nicht bei allen Sorten der Energiegehalt auf der Packung, aber auf der
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