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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
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hindurchfallende Licht. Sie musshier weg. Nach Helsinki. Dort gibt es immerhin Eichen und Kastanien und Straßenbahnen, und dort duftet es nach Meer so wie in Tallinn und Haapsalu.

1977
    Katariina möchte ihrer Mutter schreiben und fragen, wie es in Sibirien war. Falls Mutter erzählen könnte, was sie gehört hat, was erzählt wird. Kalt war es dort, aber wie kalt? Kälter als hier? Und nichts wuchs wie zu Hause in Estland. Aber Katariina wagt es nicht, weil sie nicht weiß, ob ihre Briefe durchgelassen werden oder ob sie einen Einfluss darauf haben würden, ob sie auch künftig noch nach Estland reisen kann, oder ob jemand in Schwierigkeiten geriete. Ob zum Beispiel ihre Visa nicht verlängert würden. Ob sie zurückkehren müsste. Und das wäre ja noch nicht mal schlimm, aber bald würde das Kind da sein, dann könnte sie nicht mehr zurück. Katariina würde erst im Sommer mit ihrer Mutter darüber sprechen. An einem Ort, wo sie nicht abgehört werden konnten. Auch früher hat man über diese Dinge unter vier Augen gesprochen, wie Mutter immer sagte, draußen und zu zweit. Tante Aino, Vaters Schwester, hatte etwas gesagt. Was war es? Zumindest so viel, dass in Sibirien die Häuser aus Erde gebaut wurden – ach, Erdgrube hatte sie ihre Behausung genannt. Zwar war Tante Aino angeblich nicht mehr die Alte, nachdem sie aus Sibirien zurückgekehrt war. Wie soll man also wissen, was sie gesagt hat? So wurde es auch von vielen anderen berichtet. Dass sie nach dem Krieg nicht mehr die Alten waren, dafür bedurfte es keines Sibiriens. Auch Vater war ein anderer geworden, obwohl er nicht nach Sibirien gemusst hatte. Und Katariinas Mutter sagte, hasse deinen Vater nicht, hasse ihn nicht. Dass Vater nicht mehr der Alte war, nachdem er aus dem Wald zurückgekehrt war. Angeblich hatte Arnold früher nicht einmal getrunken. Merk dir, hasse deinen Vater nicht! Hasse ihn nicht!
    Und Lindas Mann hatte vor Sibirien nun ganz sicher nicht getrunken, da er erst zehn war, als er dorthin gebracht wurde. Allerdings kam er in derselben Größe auch von dort zurück, weil sein Längenwachstum damit endete, dass die Lebensmittel ausgingen und Sibirien begann. Und das war es auch, was Lindas Kinder fürchteten, was nur werden sollte, wenn sie so klein blieben wie ihr Vater, aber sie schossen hoch auf. Linda beklagte sich niemals darüber, dass sie einen Kopf größer war als ihr Mann. Für die Mädchen wäre das nicht so hart, aber für den Jungen. Dann aber wurde er zwei Kopf größer als seine Mutter. Daran hatte Linda wohl auch niemals gezweifelt, aber überzeuge mal einen kleinen Jungen davon, der Albträume hat, in denen er auch als Großvater noch die Länge eines Tischbeins hat. Da es seinem Vater nun einmal so ergangen war.
    Aino hatte auch gesagt, dass, als im Lager aus ihnen Nummern wurden, als sie nicht mehr Aino war, da bekam sie angeblich Sehnsucht nach ihrem Namen, nach ihrem eigenen Namen, obwohl Katariina das als junger Mensch nicht recht verstanden hatte, jetzt erst fiel es ihr wieder ein, was Aino gesagt hatte. Vielleicht erinnerte sie sich deshalb daran, weil aus Katariina in Finnland Jekaterina geworden war.

1994
    Vatis Auto biegt in den Hof ein, gerade als Anna ihre Schulbücher in den Rucksack packt, das Auto, mit dem Vati zur Arbeit fährt, es wurde angeschafft, damit Vati mit seinem eigenen Wagen irgendwo dorthin, in die Nähe von Petersburg, oder war es Moskau, fahren konnte. Dorthin konnte man mit dem anderen, dem besseren Auto nicht fahren, das verstand Vati auch selbst, wegen des drohenden Diebstahls und auch sonst war das zu unsicher, wegen des Preises und weil es ein ausländischer Wagen war. Nun brauchen Mutter und Anna nicht mehr in dem dünn besiedelten und waldigen Gebiet zu sitzen, sondern können fahren, wohin und wann immer sie wollen, da das andere Auto zu Hause ist, egal, wo Vati sich auch immer aufhalten mag.
    Anna späht vom oberen Ende der Treppe nach unten. Vati kommt herein und fragt, wo Mutter sei. Anna antwortet, in Tallinn, sie kommt erst am Freitag, bis dahin sind es vier Tage. Vati geht sofort schlafen. Anna untersucht das Auto, als sie sich auf den Schulweg macht. Es ist vollgepackt, Kleider und halb geleerte Schnapsflaschen sind eilig hineingeworfen worden, sodass man aus den hinteren Fenstern nicht hinausgucken kann. Als Anna aus der Schule nach Hause kommt, wundert sie sich ein bisschen, in welchem Zustand sich das Haus befindet, was dort in ihrer Abwesenheit passiert sein mag. Es war

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