Stalins Kühe
Bei den Verwandten und Bekannten in den kleinen Dörfern und Städtchen will Mutter kein Bier kaufen, denn diese Schande braucht sie nicht, dass wieder ein »Rentier«, ihr Mann und mein Vater, sich irgendwo dort, wo man Mutter kennt, für alle sichtbar wie ein Schwein benimmt. Tallinn ist groß genug, dass wir dort einen Laden finden können, in dem wir nicht auf Bekannte stoßen. Anna ist froh, dass Vati nicht in die Stadt kann, um dort den Großen Finnen zu spielen, und dass er dazu jetzt auch weniger Lust hat. Es ist wirklich das Beste, wenn Mutter und Anna das Bier besorgen und Vati samt seinem Bier im Haus festhalten. Außerdem ist Vati mit diesem Arrangement vollauf zufrieden. Der Gepäckraum des Autos streift das Pflaster, denn er ist gefüllt mit Vaters Bierflaschen, aber damit lässt sich erreichen, dass Vater an seinem Platz in den vier Wänden bleibt und zufrieden ist. Wenn Mutter vorschlägt, die Bierladung zu verringern, weil ihre eigenen Sachen kaum ins Auto passen und die Straßen so uneben sind, dass der Unterboden des Wagens immer wieder über die Erde schrappt, regt Vati sich ungeheuer auf und macht sich schwankend auf den Weg in die Stadt, wobei seine Brieftasche und sein Pass aus der Gesäßtasche herausragen. In dem stillen Wohngebiet ist das besoffene Gelalle des Finnen weithin zu hören.
1977
Das Telefon klingelt nicht. Es könnte klingeln. Katariina möchte, dass es klingelt. Katariina möchte das seit vielen Tagen, aber ein Gespräch nach Finnland zu bestellen würde unglaublich viel Zeit verschlingen, oder es gibt am anderen Ende irgendwelche Unklarheiten.
Oder es ist etwas passiert. Aber wenn es so wäre, dann würde die Firma ihr das doch mitteilen? Wenn der Mann dort irgendwo in Russland verschwunden oder ausgeraubt worden wäre oder so was. Katariina möchte nicht, dass der Mann weiter in der finnischen Botschaft in Moskau arbeitet. Dort passieren scheußliche Dinge, obwohl der Mann kaum darüber spricht. Aber Katariina weiß Bescheid. Ab und zu meldet sich jemand bei ihr und möchte, dass etwas mitgenommen oder mitgebracht oder in der Botschaft versteckt wird. Immer drängt sich jemand auf und spielt mit plumper Vertraulichkeit den Freund. Dolmetscher sollen hofiert werden, und die Beschaffung von Papieren hängt von den merkwürdigsten Dingen ab.
In Tallinn auf den Mann zu warten war ganz leicht gewesen. Es war ihr nicht wie Warten vorgekommen. Sie hatte ihre Arbeit, ihr Zuhause, die Freunde, das eigene Land, jeden Tag viele Pflichten, sie brauchte nicht innezuhalten, und Katariina wollte nicht innehalten. Und die eigene Sprache. Jetzt war das Warten nicht mehr leicht, denn Katariina war in einem fremden Land, weit fort und allein, gerade erst angekommen und doch schon zur Untätigkeit verdammt. Wie schwer war es für die Mutter, für Sofia, gewesen, darauf zu warten, dass Arnold aus dem Wald nach Hause kam? Und die Brüder, Elmer und August, und all die anderen. Sofia war damals genauso alt gewesen wie Katariina jetzt. Auch Tante Aino war im selben Alter gewesen, als sie nach Sibirien verschleppt wurde. Junge Menschen, sie alle. Wie hatten sie das ausgehalten? Und noch dazu so lange?
Der Schnee stiebt vor dem Fenster und duftet nach etwas, was Katariina als sibirische Kälte bezeichnet.
1941
Aino Rõug, Arnolds Schwester, starrt die Soldaten an, die beiden Söhne der Familie starren die Soldaten an, Ainos Mann, Eduard Rõug, starrt die Soldaten an, sie haben eine Stunde, sie sollen Sachen zum Mitnehmen zusammensuchen, niemand aus der Familie weiß, was sie mitnehmen sollen oder wohin man sie bringt, ob es einen Sinn hat, überhaupt irgendetwas mitzunehmen, denn was, wenn man sie in den Wald bringt und erschießt? Oder wenn man ihnen ihre Säcke und Koffer unterwegs oder zum Schluss wegnimmt, dann hätte es jedenfalls keinen Sinn, irgendetwas Gutes mitzunehmen. Zumindest keine neueren Kleider. Die ältesten und schäbigsten. Das würden sie davon haben, alte Lumpen. Wenigstens könnten sie diese Leute so ärgern.
Aino Rõug sieht die Soldaten an – nicht den Esten, der mit den Soldaten gekommen ist und der aufgeblasen in der Küche herumstolziert –, und die Soldaten wirken auf sie … na, jedenfalls nicht böse oder stolz, sie sind ganz gewöhnlich, weder schreien sie, noch fuchteln sie mit den Waffen herum, sondern nehmen die Mützen ab, als sie hereinkommen, und haben wohl sogar gegrüßt. So fragt Aino die Soldaten, was sie mitnehmen sollen, was sie dort brauchen, wohin
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