Stalins Kühe
Land in der falschen Sprache im falschen Körper. Nachdem Anna ihre Körpermaße in Ordnung gebracht hat, hat sie an ihren richtigen Platz, in ihren richtigen Körper, in ihre richtige Größe gefunden und wird genau in der Weise akzeptiert, wie es sein soll. Ganz einfach nur deshalb, weil Anna schlanke Beine und schön geschwungene Hüften, junge Brüste und dazwischen eine Furche hat.
Sich jenseits der Grenze auf finnische Art zu kleiden empfindet Anna als ein immer größeres Ärgernis. Anna möchte auch dort ihre eigenen Kleider tragen, in denen man ihr um ihrer eigenen Mode willen nachschaut, nicht weil sie Zögling eines Kaplandes ist. Und da Anna jenseits der Grenze daran gewöhnt ist, dass man sie ständig beobachtet und anschaut, sie, die finnische Prinzessin, kann sie in der typisch finnischen Kleinstadt natürlich nicht ohne diese Blicke sein. Die finnische Prinzessin bekommt so viel Aufmerksamkeit, dass ihr Wandel zu einer unsichtbaren Person am Rande des typisch finnischen, erbärmlichen kleinen Marktes oder im Automarkt oder an der Verkehrsampel allmählich ganz unerträglich wird. Deshalb muss Anna ihren Körper so prinzessisieren, dass er alle Blicke auf sich zieht, zugleich aber als ein Schutz wirkt, so wie jenseits der Grenze ihr Finnentum als ein ebensolcher Schutz, der es verhindert, dass man in Annas Körper hinein und Anna selbst sieht. Anna kommtaus dieser Unsichtbarkeit und dem Nichtvorhandensein heraus, ohne die verbotene Information, die fremdländische Herkunft, offenzulegen, nur indem sie sich das beschafft, was das Wertvollste ist – ein vollkommener Frauenkörper.
Anna würde niemals wieder in einen Körper zurückkehren, der aus einem anderen Grund Aufmerksamkeit erregt als durch seine fleischliche Schönheit.
Es dauerte nur ein knappes Jahr, und Anna hatte ihr Ziel, die Sichtbarkeit, erreicht. Ihren selbst gemachten neuen Körper vergöttert Anna und pflegt ihn sorgfältig mit Masken, Cremes und Ölen. Als die Pickel der anderen Mädchen aufplatzen, hat Anna schon die Haltung einer erwachsenen Frau und stolpert nicht mehr über ihre unpaarigen Beine.
ANNA
ERINNERT
SICH nicht, wann und wie sie von der anderen erfuhr. Von den anderen. Als hätte sie es immer gewusst, obwohl davon natürlich niemals gesprochen wurde. Es kommt raus, als sich in Vatis nach Russland riechendem Koffer ein T-Shirt mit blutigen Streifen auf dem Rücken findet. Schweigend dreht Mutter das Shirt in den Händen hin und her. Anna versteht nicht recht, was los ist, obwohl sie versteht, dass Mutter ein Problem hat. Aber Vati bringt goldene Ohrringe mit sechs richtigen Diamanten mit, und Anna kann sich auf nichts anderes konzentrieren. Anna ist stolz auf die Diamanten und betrachtet sich damit im Spiegel. Mutter geht mit dem T-Shirt in der Hand auf und ab. Anna tänzelt vor dem Spiegel. Mutter wirft das Hemd in den Müll. Anna küsst ihr Spiegelbild.
Vati bringt immer Geschenke mit und immer viele. Sackweise. Tücher, Geigen, Kristall, Gitarren, Vasen, Bilder, Kaviar, Liköre, Wodka, Schmuck, Matrjoschkas, auf russische Art bemalte Holzlöffel, Holzgefäße und Kristall – Weingläser, Champagnergläser, Obstschalen, Servierplatten, Serviettenringe, Schnapsgläser, Käseglocken, Karaffen, Butterdosen, Packungen mit Süßigkeiten, Kristallglocken und Uhren mit schweren russischen Goldverzierungen. Parfums. Viele Parfums. Als Anna zehn ist, sind ihre Schreibtischschubladen voll von echten Parfums, Poison und Opium und Magic Noir und Dior und Salvador Dali und LouLou und Anaïs Anaïs. Es sind so viele, dass Anna nicht dazu kommt, sie zu benutzen, bevor sie schlecht geworden sind, und danach kauft siesich selbst nichts anderes als Nachahmerprodukte für zehn Finnmark. Und dann noch viel Kognak. Brandy. Whiskey. Bols Likör mit Goldplättchen. Das hieß wohl Bride’s tears. Ferngläser. Kamerastative. Schallplatten. Noten. Essservice. Bernstein. Haarnadeln aus Knochen. Schwere Kerzenständer und Kandelaber. Samoware. Russischen Glanz, Farben, Satin, Muster, Fülle.
Mutter benutzte niemals die Parfums, die Vati ihr mitgebracht hatte, sie roch nicht einmal daran, stellte sie nur ins Regal und rührte sie nicht mehr an. Mutter trank auch nicht mehr von dem Kognak, den Vati deshalb mitbrachte, weil er wusste, dass Mutter Kognak mochte, sondern stellte die Flaschen ungeöffnet in ihren Kartons in eine Schrankecke, bis andere Sachen sie verdeckten und sie nicht mehr vorhanden waren.
Jetzt bringt Vati alle Geschenke
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