Stalins Kühe
sich überhaupt nicht, als sie unterwegs zum Lastauto schreit, sie gehöre nicht zu dieser Familie, sie wohne nicht hier, sie kenne diese Leute nicht, sie seienihr völlig fremd, sie habe sie nur um ein Glas Wasser für das Kind gebeten. Sie müssten doch wissen, dass sie nicht hier wohnt. In diesem Hause wohnen die Bergs, so stehe es doch auch in den Papieren, nicht wahr. Kiisa und Osvald Berg und ihre zwei Söhne, Leeves Kind sei ein Mädchen, Leeve habe nichts zu tun mit diesen Menschen, diesen Faschisten, Angehörigen des Schutzkorps, Hofbesitzern, Kulaken, Kulakenschweinen! Sie habe nichts zu tun mit einer solchen Familie. Leeve weiß nicht, warum sie so schreit, warum sie so sicher ist, dass sie nicht mit dem Lastauto mitfahren darf, sie darf es einfach nicht, und auch das Mädchen nicht, vielleicht werden sie nur nach Tallinn zum Verhör gebracht, oder nach Haapsalu, ganz egal, wohin, aber sie darf nicht auf die Pritsche steigen, die schon halb voll ist von stillen Menschen und ihren unsinnigen Halbstundensachen.
Auf dem Bahnhof wird Leeve mit Kiisa und den Kindern in denselben Viehwaggon verladen, und an ihrem Ziel in Nord-Komi kommen sie auch noch in dasselbe Dorf, denn sie alle werden von demselben Mann genommen, der auf dem Platz in der Nähe des Bahnhofs, der Sklavenmarkt genannt wurde, Gefallen an ihnen gefunden hat. Von dort holen die meisten Einheimischen kostenlose Arbeitskräfte.
Die meisten der mit dem Waggon gereisten Menschen bleiben bis zum Ende der Reise am Leben. Nur eine ältere Frau ohne Angehörige stirbt, und auch einige jüngere Leute, Leeve hat keine Lust, sie zu zählen, sowie einige Juden, über deren Verschleppungen es auch später keine Listen gibt, obwohl die Deutschen von den anderen eifrig Listen erstellten. Sie gründeten sogar Büros, um die Untaten der Kommunisten sofort zu untersuchen, nachdem sie die Russen für einen Moment aus dem Land gejagt hatten, aber die Juden wurden in diesen Personenverzeichnissen natürlich nicht erfasst.
Osvald als Familienoberhaupt wird auf dem Bahnhof von den anderen getrennt, und zwei Jahre lang hören sie nichts von ihm.
Osvald kommt ins Platinbergwerk von Norilsk. Er ist klein und mager genug, um zu überleben; die Kräftigeren ertragen die plötzliche Reduzierung der Nahrungsmenge nicht, von ihnen bleiben jeden Morgen einige auf den Pritschen neben Osvald liegen. Die Leichen werden in Säcken fortgebracht und auf einem Platz in der Nähe des Lagers gestapelt. Im Frühling, wenn der Boden – und die Leichen – aufgetaut sind, wird das, was die Tiere der Tundra davon übrig gelassen haben, in ein Massengrab gebracht.
Die tägliche Brotration von dreihundert Gramm ist der Lohn für einen zwölfstündigen Arbeitstag, und sie darf nur im Lager gegessen werden, vielleicht wegen der Fluchtgefahr. So als könnte man von dort fliehen. So als wäre es möglich, mit dreihundert Gramm Brot durch Sibirien zu fliehen.
Während die Fußlappen und die Decken trocknen, gehen die Männer in den Baracken auf Bretterstückchen, die sie sich unter die Füße gebunden haben. Wenn sie auf die Toilette gehen, dürfen sie nichts außer ihrer Unterwäsche anhaben, egal, ob Frost von – 40 oder – 50 Grad Celsius herrscht.
Der Hunger erzeugt Visionen und Geräuschhalluzinationen.
Osvalds Zähne beginnen auszufallen. Wie viel wiegt er? Vierzig Kilo oder fünfzig?
Die Gedanken stocken. Nicht lange, und der Hunger würde anfangen, das Gehirn aufzufressen.
Die Tage haben sich in Rationen von dreihundert Gramm Brot verwandelt und die Feiertage in eine Kelle Suppe.
ICH
FASSE
EINEN endgültigen Beschluss. Deshalb, weil es mir so außerordentlich leichtfällt, in Hukkas Gesellschaft zu sein, und deshalb, weil Hukka von mir schon so viel weiß. Deshalb ist es ganz ausgeschlossen, dass Hukka jemals von meinem zweiten Heimatland erfährt.
Über meinen Beschluss nachzudenken verbessert in den Augenblicken der Besorgnis ein wenig mein Befinden, wenn meine allzu groß gewordene Schutzlosigkeit in Hukkas Gesellschaft mir Angst macht. Der Beschluss macht mich stärker. Auch wenn Hukka mich dazu bringt, dass wir an einem verkaterten Tag zusammen eine zu Hukka nach Hause bestellte Pizza essen, kann Hukka mich doch nicht zu allem bewegen. Hukka bestimmt nicht über alles in mir. Mag Hukka doch glauben, von mir sehr persönliche Dinge zu wissen, wenn ich von meinem Essen erzähle. Sei’s drum. Von den allerpersönlichsten wird Hukka nie erfahren, nicht vom Knarren der
Weitere Kostenlose Bücher