Stalins Kühe
ich gewusst, wovon sie sprach.
Und so ging ich mit Vati einkaufen, inmitten von Weihnachtsliedern und Plastiktannen. Allerdings brauchte Vati nichts mehr zu besorgen, um es zu verkaufen; der Kurs der Finnmark auf dem russischen Schwarzmarkt war Ende der Achtzigerjahre so gut, dass die Finnen dazu übergegangen waren, anstelle von Brieftaschen Plastiktüten zu verwenden, mit denen sie bei Bedarf von den Spekulanten einen neuen Haufen Rubel holten. Die Plastiktüten waren auch insofern praktisch, als sie beim Stehlen für niemanden mehr die erste Wahl waren.
Die Ware wurde nur als Bezahlung für die Frauen gebraucht, die von Lastautos aus dem Binnenland dorthin gebracht wurden, wo es Baustellen mit finnischen Männern gab.
ALS
WIR
IN Moskau zu Besuch waren, winkte ein Kollege Mutter vom Korridor des Hotels in sein Zimmer. Der Mann war über sechzig und hatte im Bett eine rundliche Russin von vielleicht neunzehn Jahren. Er verstand nicht, was das Mädchen sagen wollte, und bat Mutter zu dolmetschen. Das Anliegen des Mädchens wurde dann auch klar, als Mutter dolmetschte, was für Kleidungsstücke der Mann ihr aus Finnland mitbringen sollte.
Kleidungsstücke?
Ja, Kleidungsstücke, Kleider, Blusen, Büstenhalter …
Das Mädchen wurde nervös, als der Mann immer noch nicht zu verstehen schien, aber dieser bat Mutter sofort, beruhigend zu sagen, ja ja, er werde die Sachen natürlich mitbringen, er habe eine Tochter in genau demselben Alter, mit ihr würde er diese Kleidungsstücke besorgen, damit er die richtige Größe kaufte, allein würde er das nicht hinbekommen, aber seine Tochter würde das bestimmt können, mit ihr würde er dann losziehen, wie sollten diese Kleider denn aussehen?
MUTTER
KAUFTE
EIN Exemplar der Zeitschrift Alibi , die wir niemals zusammen mit den anderen Zeitungen wegwerfen werden und nach deren Lektüre Mutter ihre Meinung bezüglich der Kondome änderte, die sie in Vaters Tasche gefunden hatte und in die sie trotz ihres Ärgers keine Löcher mehr mit der Nadel hineinstach. Diese Nummer der Alibi bewahrt Mutter in der Küche auf, in der Schublade unter der mit den Essbestecken, in der sich ansonsten nur Rezepte befinden. Das Titelblatt zeigt das Foto einer russischen Prostituierten, Olga Gajewskaja, die sich auf die Bespaßung von Finnen spezialisiert hatte und die das erste offizielle Aidsopfer in der Sowjetunion war. Olga Gajewskaja hat vom Blondieren ausgetrocknete Haare, deren Wurzeln fast schwarz sind, und obwohl das Foto schwarz-weiß ist, bin ich sicher, dass die großzügig aufgetragene Lidschattenfarbe und die Mascara, mit der sie sowohl die oberen als auch die unteren Wimpern gleich sorgfältig getuscht hatte, von grellem Grün und die Lippen schreiend rot sind. Die neunundzwanzigjährige Olga hat ihren Beruf zehn Jahre lang ausüben können. Bei ihrem Tod war sie in der vierten Woche schwanger. Der Reporter der Alibi behauptet, Olga Gajewskaja habe tausend finnische Kunden gehabt.
Das Foto von Olga in der Alibi dürfte viele finnische Männer an ein Abenteuer in einer Leningrader Nacht erinnern. Ob es wohl gerade sie gewesen war? Wurde ein Kondom verwendet? , fragt der Reporter und bestreitet, eine Hysterie auslösen zu wollen. Die TASS hatte verlangt, das Foto in Finnland zu veröffentlichen, und der Reporter stellt fest, das sei ganz richtig. Das finnische Aids-Zentrum wiederum hatte sich der Veröffentlichung des Fotos widersetzt.
Olgas Passfoto war auf der Titelseite der Alibi wie das einer Kriminellen abgebildet, eine eindringliche Frage an die »Finnland-Jungs«: Bist auch du im Bett der an Aids gestorbenen Olga gewesen?
1943
Ein in derselben Baracke wohnender Krimineller, ein Blatnoj , hat Osvald die Fausthandschuhe gestohlen, und neue bekommt er nicht trotz Frost und Arbeit. Nach Ansicht der Lagerleitung ist Osvald trotzdem »zweckmäßig gekleidet« und insofern völlig arbeitsfähig. Wieso beklagt sich dieser Faschist? Andererseits könnte es passieren, dass Osvalds Hände im Bergwerk ohne Schutz in einen Zustand geraten, dass er die Hoffnung hätte, ins Krankenhaus zu kommen, aber bis dahin würde qualvoll viel Zeit vergehen, und es wäre nicht einmal sicher. Handschuhe braucht man schon allein für den Aufenthalt in der Baracke, denn auch dort ist es so kalt, dass die Haare während der Nacht am Kissen festfrieren. Während derselbe Kriminelle mit einem Handtuch einen jungen Litauer erwürgt, schnappt Osvald sich dessen Handschuhe, noch ehe die Leiche zu Boden
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