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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
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Tür im Kommissionsgeschäft, nicht von dem kalten Wasser aus dem koogukaev , dem Ziehbrunnen, nicht von den Steinkreuzen, die vom Regen Hunderter Jahre zerfressen sind, und nicht von den ausgetretenen Steinstufen, von dem blauen Lidschatten unter den Brauenbögen der Russin, von der roten Warnblinkanlage, die in Pärnu auf dem Lenin-Denkmal an die Stelle des Kopfes montiert worden ist, von dem finnischen Mann, der nach dem Preis fragte, und von dessen neuweißen Turnschuhen.
    Dennoch zweifle ich. Obwohl ich in Sicherheit bin und obwohl mein Herr in Sicherheit ist. Obwohl ich bestimmteTüren geschlossen lasse, stehen andere zu weit offen. Habe ich zugelassen, dass ich abhängig werde von der mich fütternden Hand, von Hukkas Hand, von der ich Brotkrumen aufpicke, habe ich es zugelassen, dass man mich ein wenig zu gut berührt, ein wenig zu sahnig, sodass die geschlossenen Türen kurz davor sind, knarrend aufzugehen, obwohl ich meinen Beschluss gefasst habe?
    Anna wartet niemals, bis etwas Schlimmes passiert. Anna handelt vorher.
    Sei bereit. Immer bereit .
    Anna ist bereit.
    Wenn du im Zweifel bist, denk an die Frauen, die Vati nachts anrufen. Denk an die Russinnen in der Bar des Hotels Viru. Denk an die finnischen Geschäftsleute, die über die behaarten Beine der russischen Huren reden. Denk an Jussis Müdigkeit während seiner Urlaube in Finnland. Denk daran, wie irgendwelche Personen an die Türen klopften, als unsere ganze Familie in Tallinn wohnte. Poch. Denk daran, wie Vati nicht öffnen geht. Dort ist niemand. Denk daran, dass das Klopfen das scharfe Klopfen einer Frau ist. Pochpochpoch. Denk daran, wie Mutter schweigend, mit herabgezogenen Mundwinkeln, an deren Enden sich nach ein paar Jahren die ersten Falten zeigten, am Gasherd in der Küche Essen kocht. Pochpoch. Denk daran, wie die Absätze schließlich von der Tür fortklackerten. Mutter öffnet das Glas mit Mayonnaise und stellt es auf den gedeckten Tisch. Auf dem Fensterbrett steht eine Packung Peppi-Haferflocken, die sie aus Finnland mitgebracht hat. Wo hat Vati dort eigentlich geschlafen? Ich schlief neben Mutter im Ehebett, und Mutter ließ das Licht brennen, weil es die Wanzen fernhielt. Aber wo schlief Vati?
    Denk an die Einkaufslisten, die die Russinnen Vati mitgaben: ein kurzer Lederrock, eine Lederjacke, ein Mixstab, ein Staubsauger, Tampax, Strumpfhosen, Lockenstab, Stricknadeln, Wolle, Shampoo. Manchmal gab es von den gewünschten Kleidern ein gezeichnetes Bild, das das richtige Modell verdeutlichen sollte. So als hätte Vati sich allein daran orientieren können.
    Denk an all das, woraus ersichtlich wird, dass man niemandem vertrauen kann. Denk daran, dass niemand und nichts so ist, wie es scheint.
    Denk daran, wie du, wenn Vati und Mutter in der Sauna waren, zu Vatis Taschen und in die Garage geschlichen bist, um die Lage zu prüfen. Denk daran, wie aus der Diele das Schaukeln des Kleiderbügels zu hören war, wenn Mutter Vatis Manteltaschen durchsuchte, während er schlief. Denk an dieses Schaukeln, auf das nicht das Anziehen des Mantels und das Öffnen der Wohnungstür folgten wie sonst. Denk daran, wie dieses Schaukeln Flugticket und Pass in Mutters Hand brachte, laut denen Vati schon am Montag hätte in Finnland sein müssen, wir aber Vati erst am Donnerstag hatten abholen müssen. Am Donnerstag. Und am vereinbarten Tag kam Vati auch. Wo war Vati drei Tage lang gewesen?
    Denk daran, wie du Vatis Einkaufslisten kopiert hast, wenn Mutter keine Möglichkeit hatte, sie zu suchen – manchmal hat Vati wohl etwas geargwöhnt und nahm sich in Acht. Nicht jedes Wort der Liste war zu entziffern, ich kopierte Wörter, die Buchstaben abwechselnd aus beiden Sprachen enthielten, aus dem Finnischen und aus dem Russischen. Die Brieftasche steckte ich zurück in die Manteltasche genau so herum, wie sie gewesen war. Die Einkaufslisten schob ich wieder an dieselbe Stelle, zwischen Scheckkarte und Führerschein. Den Griff des Koffers führte ich in dieselbe Stellung zurück, in der er sich befunden hatte, bevor ich den Koffer öffnete.
    Ich musste auch daran denken, dass ich meinen Vater nicht hassen darf, weil er doch mein Vater ist. So sagte Mutter.

    Ich verstand nicht, was Mutter meinte. Ich verstand nicht, was Hass bedeutete. Ich konnte nicht hassen, obwohl ich gut war im Streiten, im Schreien, im Raufen. Aber zu Hass fiel mir nichts ein, ich hatte keine Vorstellung davon. Das war nur ein Wort. Mutter sagte ich immer, natürlich nicht – als hätte

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