Stalins Kühe
fehlt, dürfen Mutters Briefe in den Briefkasten gesteckt werden, denn das ist eine für die Augen der Tante bestimmte Version.
Über Politik enthalten die Briefe natürlich nichts. Eine Menge allerdings darüber, was auf dem Kartoffelfeld geschieht, wie es dem Garten und den Gemüsebeeten geht, sowie Zeichnungen über die Größe der Kartoffeln. Ein alter Freund von Mutter schrieb zwar solche Briefe, dass Mutter geradezu Angst bekam, aber die Briefe gingen durch, und der fragliche Freund machte zu sowjetischer Zeit sogar noch eine Reise nach Australien, obwohl er den Kommunismus, die Russen und den Generalsekretär der Partei in Grund und Boden verdammt hatte. Großmutter bezeichnete die Russen in ihren Briefen nur als »die«. Auf der Post arbeiten nur »die«, die meine Sprache nicht verstehen, und ich nicht ihre, »die« müssen überallhin geschoben, gedrängt und gesetzt werden , und Großmutter kriegt ihre Angelegenheiten auf der Post nicht mehr selbst erledigt.
Maria ist der Großmutter eine so unheimlich gute Freundin geworden, dass sie die Briefe ganz außerordentlich gern zur Post bringt und auch einkaufen geht, wenn Großmutters Bein das Schlangestehen nicht mehr aushält, sie verteidigt Großmutter, wenn Linda schlechter Laune und wütend ist, weil sie in der Mittagspause, am Nachmittag und auch noch am Abend nach den unterschiedlichsten Dingen angestanden hat und dann auch noch wegen Mutters Einladungspapieren herumgelaufen ist und zu Hause drei Kinder, die kranke Mutter und der Mann warten, der sich wohl wieder zum Trinken in den Stern von Vietnam verdrückt hat. Maria schreibt der Mutter einen schönen Dankesbrief für den Wintermantel, der per Post gekommen ist, genau passend zum Kälteeinbruch. Die Tante schreibt der Mutter, kaufe Maria auf keinen Fall etwas, denn für Maria gibt es auch hier Kleider, und zwar ganz brauchbare, Maria wird allmählich ganz unmöglich, sie ist nicht bereit, etwas anzuziehen, was kein import ist. Sie bildet sich sonst was ein. Trägt die Nase unerträglich hoch. Großmutter schreibt, Maria möchte kein Geld als Lohn für ihre Mühe mit dem Aufgeben der Briefe, auf gar keinen Fall, obwohl Großmutter versucht hat, es ihr anzubieten, aber Maria würde sich freuen, an den Ärmel ihres neuen Mantels einen Reflektor zu bekommen. Die Tante schreibt, du wirst für Maria überhaupt nichts mitbringen und auch nicht schicken. Großmutter schreibt, dass Maria der Mutter die Briefe ohne Lindas Wissen schicke, aber Linda weiß, dass Maria das tut, und macht sich Sorgen über das, was Maria sich beim Schreiben wohl alles ausdenkt. Maria schickt noch einen zweiten Dankesbrief für den Mantel. Der war so schön.
Maria stiehlt die import- Kleider ihrer Schwester und fragt bei jedem ausländischen Gegenstand der Großmutter, ob sie ihn haben könne. Die Schuhe, die Anna vergessen hat und die Maria zu klein sind, zieht diese sich entschlossen an die Füße. Die anderen Sachen von Anna, die sie bei der Großmutter zurückgelassen hat, damit sie sie im nächsten Jahr nicht mitzuschleppen braucht, kann Großmutter noch rechtzeitig einschließen.
Auch Großmutter findet schon, dass sich Maria unmöglich verhält. Großmutter verlässt sich jetzt bei den Postsachen mehr auf Marias Bruder, aber daraus folgt nur, dass sowohl Großmutter, die Tante als auch Maria der Mutter schreiben,sie solle für den Bruder nichts schicken oder mitbringen, was auch einer Frau passen könnte. Der Bruder hat nämlich eine Freundin, Inga, die den Inhalt des Kleiderschranks ihres Freundes Stück für Stück selbst in Gebrauch nimmt.
Maria hört in der Stadt von Freunden, dass Inga neuerdings damit prahlt, einen Freund zu haben, dessen Tante in Finnland lebt. Inga wird viel bewundert. Mutter weigert sich, mit Inga zu sprechen, als sie sie sieht.
DER
BRIEFVERKEHR
ZWISCHEN Mutter und Großmutter war stetig. In der Wohnung in Finnland waren alle Kartons und Stühle voll von halb fertigen Briefen oder Notizbüchern, die davon zeugten, dass es keinen Zweck hatte zu telefonieren. Telefone waren zu unsicher und teuer, und es war unangenehm, unter so offenkundiger Beobachtung zu stehen. Mutter wollte niemandem die Freude gönnen, sie am Telefon weinen zu hören, obwohl sie im Hafen von Tallinn bei der Abreise offen weinte, das konnte sie nicht verhindern. Großmutter wiederum kam nur dann an ein Telefon, wenn sie bei der Tante war, und bei der Tante stand das Telefon unter deren Aufsicht, neben der Tür ihres
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