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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
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machten sich daran, sie umzusetzen.

1977
    Jeder hatte viele Menschen, um die er Angst haben musste. Sofia natürlich Arnold und die Brüder Elmer und August. Wie hat Mutter Sofia das eigentlich ausgehalten, da Katariina es auch in Finnland kaum aushält? War Mutters Angst ähnlich gewesen, von derselben Art wie jetzt die Katariinas, die Angst um diejenigen, die zu weit fort sind? Wie hätte Katariina auch voraussehen können, dass in Finnland ihr Hass auf die Besatzer von der beständigen Sorge um diejenigen abgelöst würde, zu denen sie nicht hinkonnte? Wie konnte Sofia Schlaf finden, als ihr Mann im Wald und die Familie unterwegs in die sibirischen Lager war, wie konnte sie essen und atmen, wie es schaffen, dass ihr Gesichtsausdruck ruhig und ihre Stimme auch in der eigenen Küche fest blieb – denn man wusste ja nie, unter welchem Fenster ein Spitzel horchte.
    Das Land verlassen wollte Arnold nicht, obwohl die meisten Menschen, die nur genügend Gold und die Chance dazu gehabt hatten, gegangen waren. Arnold allerdings hatte nicht mehr die Mittel, er hatte gerade alle Schulden abbezahlt, der Hof gehörte ihm und nicht der Bank, das Land war jetzt sein Gold. Und die junge Familie. Ob Sofia hätte gehen wollen? Was hatte sie doch über ihre Schwester Liisa gesagt, die nach Kanada geflüchtet war? Irgendwann war von Liisa auf Umwegen über viele Etappen ein Brief gekommen, in dem sie berichtete, dass, da die Finnen alle Flüchtlinge an die Sowjetunion ausgeliefert hatten, sie mit ihrem Mann nach Schweden geflohen war und man sie dortgefragt hatte, als sie von den Verschleppungen berichteten, warum sie nicht die Polizei gerufen hätten.
    Sofia hatte gesagt, sie hätten fortgehen sollen. Aber sie hatten nicht geglaubt, dass so etwas möglich wäre. Auch hatten sie gerade ihre Schulden abbezahlt. Man sollte gehen, solange man es noch kann, und nicht darauf warten, dass man in der Falle sitzt. Merk dir das, Katariina.
    Elmer und August hatten sich rechtzeitig im Wald versteckt, nachdem sie vor der sich zurückziehenden deutschen Armee fortgelaufen waren, und blieben dort. Irgendwann war auch Arnold bei ihnen gewesen. Im Wald bauten sich Elmer und August einen ordentlichen Unterstand, schworen, nur dem Gesetz der Republik Estland zu folgen und für ein selbstständiges Estland zu kämpfen. Aber Arnold konnte doch zu diesem Zeitpunkt nicht mit ihnen zusammen gewesen sein, oder doch? Katariina erinnert sich an einen aus dem Wald hervorschleichenden Mann im grauen Mantel, von dem die Mutter sagte, über diesen Mann darfst du nicht sprechen. Vater war damals schon zu Hause, war der Mann dann Elmer oder August?
    Manchmal halfen Elmer und August in den Nachbarhöfen bei der Landarbeit, bemühten sich, die Bauern bei der Erfüllung des unmöglichen Solls der landwirtschaftlichen Vereinigung zu unterstützen, wechselten den Unterstand, schlossen sich mit anderen Waldbrüdern zusammen, trennten sich, schlossen sich wieder zusammen, hissten am Unabhängigkeitstag Estlands am Fahnenmast vor der Gemeindeverwaltung die blau-schwarz-weiße Flagge und versuchten, den Menschen das Eigentum wiederzugeben, das man ihnen geraubt hatte. Und erwarteten von Westen her das weiße Schiff, das Hilfe bringen und die Rote Armee vertreiben würde.
    Das weiße Schiff kam nicht.

    Siebenundzwanzig Jahre später kam ein weißes Haus, das Hotel Viru.
    Und dann das erste weiße Passagierschiff zwischen Helsinki und Tallinn. Vom Strand im Stadtteil Pirita konnte man es sehen. Katariina sonnte sich gerade, als das Schiff in der Ferne vorbeifuhr, hell, klein. Die M   /   S Tallinn, Katariinas weißes Schiff.
    Und noch später weitere weiße Schiffe voller betrunkener Finnen, eine ganze kleine Armee.

1945
    Ständig werden Männer von der Grünen Legion, Waldbrüder, gefasst. Sofias Schwester Maria sitzt zitternd bei Sofia in der Küche und erzählt, dass auf Edgar Pohjala geschossen wurde, als er einfach nur den Weg entlangging, und dass er verletzt zur Identifizierung in die Gemeindeverwaltung gebracht wurde. Dort, in der Gemeindeverwaltung, starb Edgar Pohjala. Die Männer vom Sicherheitsdienst brachten seine Leiche in den Wald und vergruben sie so, dass die Füße sichtbar blieben.
    Es gefällt Sofia nicht, dass Maria mit so lauter Stimme spricht, ist denn das nötig, dass die Geschichte bis nach draußen zu hören ist? Was, wenn nun zufällig jemand vor dem Fenster horcht und meldet, dass die Leute in diesem Haus sich wegen eines Banditen die Augen

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