Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Stars & Stripes und Streifenhörnchen

Titel: Stars & Stripes und Streifenhörnchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Streck
Vom Netzwerk:
Füße nicht mehr sehen. So was kommt von so was. Manchmal spielen wir auch ein Spiel im Restaurant. Wir sitzen da, beobachten andere Leute an Tischen, und jeder muss wetten, an welchen Tisch ein Kleinlaster voll Nachos apportiert wird. Es ist ein schönes Spiel, die Töchter lieben es. Jeder hat einen Versuch, reihum. »Da hinten, der Mann mit der blauen Baseballkappe«, sagt zum Beispiel die Jüngere. Wenn wir es uns richtig schwer machen wollen, wetten wir, welcher Gast wohl was bestellt. Das gibt dann einen Bonuspunkt. Meistens gewinnt die spindeldürre jüngere Tochter, »Zwiebelringe als Vorspeise und dann Burritos mit Pommes und Bohnen.« Sie hat im Laufe der Zeit einen guten Blick dafür entwickelt, die Augen essen wirklich mit.
    Überhaupt unterscheiden sich Restaurantbesuche in Amerika fundamental von Restaurantbesuchen in Europa. Selbst in gehobenen Lokalitäten passiert es, dass die Vor- und die Hauptspeise simultan kommen, was den Gast irritiert, den Kellner aber nicht. Einer fragte die Frau des Hauses allen Ernstes: »Wollen Sie die Vorspeise vor der Hauptspeise?« Amerikanische Kellner sind grundgute Menschen. Sie können die Liste der »Daily Specials« in einem Tempo runterrasseln wie früher Dieter Thomas Heck den Abspann der ZDF-Hitparade. Sie stellen sich stets mit Namen vor, »Hi, my name is Betty, and I'm your Server tonight«. Und sie treten gern in Intervallen von drei bis fünf Minuten an den Tisch und fragen: »Are you okay, folks?«, als erwarteten sie minütlich eine Lebensmittelvergiftung oder einen Herzinfarkt durch Cholesterin-Überdosis. Den diesbezüglich ultimativen Rekord an Idiotie hält ein kleines Wirtshaus in Minot, North Dakota, das wir eines Abends auf der Durchreise enterten. Nach dem üblichen Prozedere, »My name is Garol, and I'll be your Server tonight«, orderten wir Spinat-Artischocken-Dip, eine normalerweise übersichtliche Vorspeise. Nach handgestoppten drei Minuten wuchtete Carol einen Eimer Dip auf den Tisch. Und 20 Sekunden später, unser Besteck war noch jungfräulich unberührt, stand Carol wieder am Tisch und fragte: »Are you okay, folks?«, worauf die Frau »I don't know yet«, »Ich weiß es noch nicht«, sprach, die ältere Tochter einen Lachanfall bekam und der Mann vor Schreck den Löffel in den Spinat-Artischocken-Dip-Eimer plumpsen ließ, der auf Nimmerwiedersehen versank.
    Man muss andererseits die Gastronomen und ihre unablässige Fragerei nach dem werten Befinden verstehen. In keinem anderen zivilisierten Land werden mehr Diäten erfunden als in den USA, und in keinem anderen zivilisierten Land sterben zugleich mehr Menschen an den Folgen von Essen. 62 Prozent der erwachsenen Amerikaner, fast 130 Millionen, gelten als übergewichtig, 31 Prozent davon als fettleibig. Die Sitze in Sportstadien, Theatern, Kinos und U-Bahnen wurden sukzessive dem amerikanischen Durchschnittshintern angepasst, weil es im Laufe der Evolution zu gigantischer Gesäßerweiterung von knapp sieben Zentimetern kam.
    Essen ist hier eben nicht nur eine Frage des Geschmacks, sondern des Geldes, der Bildung – und der Dosierung. Als uns unser lieber Nachbar David im ersten Frühjahr fragte, ob er uns ein paar Muscheln mitbringen solle, und wir arglos bejahten, konnten wir nicht ahnen, dass er damit den kompletten Muschelbesatz Neuenglands meinte. Er brachte eine ganze Wanne voll Muscheln. Er meinte es gut. Sie meinen es immer gut.
    Der Umgang mit Nahrungsmitteln verstört den naiven Europäer zuweilen. Zur Halloween-Zeit im Oktober werden gerne Kürbisse mit einer gigantischen Kürbiskanone durch die Landschaft geschossen oder von einem Kran aus 30 Meter Höhe auf alte Autos geplumpst. Die Kürbisse, geschossen oder geplumpst, zerplatzen in tausend Stücke und sind für den weiteren Verzehr ungeeignet. Aber das Kürbisschießen und -plumpsen schafft es Jahr für Jahr in die Fernsehnachrichten. Wie im Übrigen ein in Europa weitgehend unbekannter Sport – »competitive eating«, auf deutsch: Wettfressen. Sie haben in Amerika sogar eine eigene Liga fürs Wettfressen, die »Major League Eating«. Betreiber dieser Leibesübung verspeisen Kalbshirne, Käsekuchen, Kohl, Bohnen, Eier, Eis, Eisbeine, Hühnerbeine, Waffeln und vor allem Hotdogs.
    Was der Mann, ein alter Freund des Leistungssports, wenigstens einmal live und in Farbe erleben wollte. Denn, nicht wahr, insbesondere das Wettfressen in Coney Island hat Tradition, seit 1916, und lockt am Unabhängigkeitstag Jahr für Jahr

Weitere Kostenlose Bücher