Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Stars & Stripes und Streifenhörnchen

Titel: Stars & Stripes und Streifenhörnchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Streck
Vom Netzwerk:
Halbbruder.
    In einem Sofa saß Augustino »Tino« Altese, aus Detroit, Michigan, 249 Kilo, der seit frühester Jugend mit Übergewicht kämpfte und insgesamt fast sieben Jahre seines Lebens in Durham verbracht hatte. Nicht am Stück, aber eben immer wieder für Monate und einmal sogar dreieinhalb Jahre. Tino, Besitzer einer Pizzeriakette, kannte alle Programme. Er hatte einen kleinen Kopf, der auf einem gigantischen Körper saß. Tino redete gar nicht lange um den heißen Brei herum. »Jeder von uns weiß, warum er hier ist. Wir essen zu viel. Basta.« Dann malte er mit seinen Händen Sinuskurven in die Luft. »Jo-Jo«, sagte er. Das ist in der Sprache der Dicken ein feststehender Begriff. Wobei man das Wörtchen dick niemals benutzten sollte in Gegenwart von Dicken, sondern politisch korrekt: horizontal herausgefordert.
    »Jo-Jo« dagegen ist politisch absolut unverfänglich. »Jo-Jo« steht für den ewigen Kreislauf von abnehmen, zunehmen, abnehmen, zunehmen. Der horizontal herausgeforderte Tino hat sie selbst genug erlebt, diese Exzesse. Ging in ein Restaurant, orderte drei komplette Menüs zum Mitnehmen, gab vor, die Familie würde warten, aber da war niemand, der wartete. Fuhr heim, breitete das Essen aus und bekam den Tunnelblick. »Es ist wie Sex«, sagte Tino. »Sex mit dem Essen. In dem Moment ist es sogar besser als Sex.« Jeder konnte solche Geschichten erzählen im Rice House von Durham. »Wir sind wie eine Familie«, sagte Tino. Sie kommen nach Durham und gehen miteinander durch dick und dünn. Ich traf Menschen dort, die bis ins hohe Erwachsenenalter hinein glaubten, Spinat komme aus der Dose.
    Abends an der Hotelbar hockten Martha und Sandra und Eric, der große Mengen Bier und große Mengen Hühnchen vertilgte, last supper, die zweite. Eric fragte: »Weißt du eigentlich, wer ich bin?«, und Sandra, blond, schaute traurig, weil der Pilot wieder abgeflogen war. Martha erzählte derweil von der Blütezeit Durhams, von den rauschenden Festen am Pool des Duke-Towers-Hotels, den die horizontal Herausgeforderten selbstironisch »Whale-Watch« nannten. »Durham ist Sex und Drugs«, sagte sie. Und das sei irgendwie auch logisch, denn: »Du isst nichts, du hast nichts zu tun, du bist unter deinesgleichen, also wirst du geil.« Ehen gingen hier kaputt, neue Ehen entstanden, und Martha mochte wetten, dass die schweren Jungs nach wie vor keine leichten Mädchen brauchen. Auf drei Frauen, dozierte sie, kommt in den Durham-Kuren nämlich nur ein Mann und der gewiss nicht zu kurz. Sie sprach offenbar aus Erfahrung von der Liebe in Zeiten des Cholesterins. »Korpulenz und kopulieren schließen sich nicht aus«, schloss Martha wissend, und Sandra sah jetzt noch trauriger aus. Sie hätte an diesem Abend wohl auch einen horizontal Herausgeforderten genommen, aber weit und breit nichts in Sicht außer Eric, der sich am fünften Bier abarbeitete.
    Tags drauf zeigte Eric im Rice House ein Video. Er war mal ein sehr ordentlicher Komödiant. Schlagfertig, politisch unkorrekt, flinke Zunge. Die horizontal Herausgeforderten saßen im Kreis um das Fernsehgerät, und davor stand Eric und fragte: »Wisst ihr eigentlich, wer ich bin?« Eine Ärztin stand auf, legte ihren Arm auf Erics Schulter und sagte: »Eric zeigt uns jetzt ein Video. Eric ist nämlich Künstler.« Die Szene erinnerte stark an »Einer flog übers Kuckucksnest«. Auf dem Video hatte Eric ziemliche Ähnlichkeit mit seinem Halbbruder Michael. Der Eric auf dem Video hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem Eric vor dem Videogerät. Die horizontal Herausgeforderten klatschten artig.
    Am dritten Abend erzählte Martha an der Hotelbar, dass sie sich »wie eine dünne Frau im falschen Körper fühlt«. Eric nahm gerade sein drittes letztes Abendmahl ein, Steak und Bier, und Sandra schmachtete einen Schweden an, der sie fragte, ob ihre Brüste echt seien und sie ihn daraufhin einlud, ihre Brüste auf Echtheit zu untersuchen. Also blieben am Tresen zurück Martha, Eric und ich. Es war definitiv Zeit, die Hauptstadt der Dicken wieder zu verlassen und nach New York zu fliegen, zu Frau und Töchtern.
    Sie holten mich am Flughafen ab. Zu Hause aßen wir Salat.
    Martha verließ Durham wenige Monate später und ging zurück nach Philadelphia. Sandra muss wohl auch irgendwann abgereist sein, hoffentlich – es sei ihr sehr gegönnt – mit einem Piloten. Eric hatte noch ein paarmal sein last supper an der Hotelbar. Ein Jahr später hatte Eric wirklich sein letztes Mahl. Sie fanden

Weitere Kostenlose Bücher