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Stars & Stripes und Streifenhörnchen

Titel: Stars & Stripes und Streifenhörnchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Streck
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Tausende Zuschauer an. Zuletzt stand obendrein die nationale Ehre auf dem Spiel, weil ein schmächtiger Japaner namens Takeru Kobayashi sechs Jahre in Serie die Amerikaner in ihrer ureigensten Diszplin düpiert hatte: im Verschlingen von Hotdogs. Im Jahr 2007 aber war ihm ein Gegner gewachsen, der Ingenieursstudent Joey Chestnut aus Kalifornien, welcher mit der Empfehlung anreiste, Kobayashis Weltrekord im Wurstverzehr gebrochen zu haben.
    Das Fernsehen übertrug das Ereignis live auf dem Sportkanal ESPN 2; in den Tagen zuvor hatte ESPN schon alte Schlachten am Büffet aufgewärmt. Es liefen Wiederholungen der Wurstvertilgungsmassaker der Jahre 2001 bis 2006. Sieger jeweils der Schmachtlappen aus Nippon, ein Bonsai von einem Mann, ein lebender Verdauungstrakt, um den man sich allerdings Sorgen machte, weil er – wie es hieß – unter einer Art Kiefer-Arthritis litt, jaw-thritis. Klarer Fall von Trainingsverletzung.
    Dieses kulinarische Großereignis wollte ich unbedingt erleben und lockte die Töchter unter falschem Vorwand nach Coney Island, dem berühmten Vergnügungspark am Atlantik, »das wird bald abgerissen, und ihr solltet es noch einmal sehen, solange es noch steht«. Die Töchter waren einigermaßen fassungslos, »du bist pervers, Papa!«, als ich den wahren Hintergrund unseres Ausflugs offenbarte. Die ältere beschäftigte sich in der Schule gerade mit Nahrungsmittelknappheit auf Haiti, quasi dem Kontrastprogramm, und eine gewisse Scham überfiel ihren Erzeuger, die aber alsbald verflog, als die Kombattanten die Bühne vor »Nathan's« Wurstbraterei betraten. Zwölf an der Zahl, darunter eine Frau, aber lediglich zwei Favoriten: Joey Chestnut und der Japaner, der sich, jaw-thritis!, in den Tagen vor dem Showdown lediglich von Weichspeisen ernähren durfte.
    Der Ansager George Shea, zugleich Gründer der Internationalen Vereinigung für Wettessen, sabberte ins Mikrofon, dass Joey Chestnut eines Tages in einem Atemzug mit Abraham Lincoln und Neil Armstrong genannt werden würde, weil: amerikanischer Held. Ein paar verstreute japanische Fans brüllten daraufhin »Tora, Tora, Tora«, als Kobayashi vorgestellt wurde. Es hatte etwas von einer Mischung aus Weltkrieg zwei, High Noon und alten Rocky-Filmen. Sodann entspann sich ein epischer Kampf auf Biegen und, nun ja, Brechen. Denn nach zwölf Minuten hatten beide, Chestnut und Kobayashi, jeweils 66 Hotdogs mit Brötchen in sich hineingestopft. Herrn Kobayashi allerdings purzelten zum Finale leider einige wenige Hotdog-Bröckchen aus dem vermutlich noch immer arthritischen Mund zurück auf den Pappteller. ESPN präsentierte dieses Malheur in Super-Zeitlupe, worauf Joey Chestnut unter »USA, USA«-Rufen des Publikums zum Sieger erklärt wurde und einen senfgelben Gürtel eines Senf-Herstellers bekam. Kobayashi beugte sich dem Urteil, »reversal of fortune«, Umkehr des Glücks, hieß es in der Sprache der Wettesser, was eine sehr liebevolle Umschreibung für organisiertes Erbrechen ist. Er beugte sich nicht nur dem Richterspruch, sondern auch seinen Oberkörper in guter, alter japanischer Tradition und versprach, im kommenden Jahr wiederzukommen, arthritisfrei dann. Kobayashi durchlitt vor »Nathan's« sein persönliches Midway. Er tat mir leid.
    Joey Chestnut, ein wenig außer Atem, sprach, der Geist des 4. Juli, der Geist der Unabhängigkeit, habe ihn zum Sieg getragen und er hätte sehr wohl noch mehr Reserven gehabt. Er hörte sich an wie ein Sieger beim Marathon. Die Töchter, beide keine großen Freunde des Leistungssports, waren von der Veranstaltung deutlich weniger begeistert. Die Ältere versicherte auf der Heimfahrt erschütternd glaubhaft, sie werde nun allen ihren Freundinnen in der Schule und auch ihrem Soziologielehrer erzählen, dass ihr Vater pervers sei und wildfremden Menschen beim Wurstvernichten zuschaue. Sie rechnete flugs in Kalorien um, dass man statt eines solchen Events ein ganzes Dorf in Haiti hätte eine Woche mit Nahrung versorgen können, und abermals legte sich Scham über den Erzeuger, und es wurde auch nicht besser, als ich erklärte, dass mehr Menschen im Fernsehen den Kampf der Wursttitanen verfolgen als die Debatten der Präsidentschaftskandidaten. Sie murmelte noch irgendwas von kapitalistischen Auswüchsen und westlicher Dekadenz, und dann gingen mir bedauerlicherweise die Argumente aus, und ich stellte das Radio an. Zu Hause aßen wir Salat.
    Ich traf Joey Chestnut einige Wochen später noch einmal, diesmal im Grand Central

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