Stars & Stripes und Streifenhörnchen
verstanden auch nicht. »Wer ist Bin Laden?«, fragte die Ältere, Und: »Warum hängen hier überall Fahnen?« Einmal, zwei Monate nach den Anschlägen, trafen wir einen Vater mit seinen beiden Söhnen. Seine Frau, Alayne Gentul, hatte im Nordturm erst 40 Menschen das Leben gerettet, und als sie sich schließlich selbst retten wollte, war es zu spät. Die Töchter spielten mit den Jungs, sie lachten gemeinsam, sie verständigten sich ohne große Worte. Später fragte die jüngere: »Warum konnten Robin und Alex lachen?« Sie fragt das heute im Abstand von sechs Jahren noch manchmal. Die Töchter begriffen das Ausmaß der Tragödie damals noch nicht. Sie waren sieben und neun, als wir in die Villa Kunterbunt zogen, Kinder. Und als wir das Land wieder verließen, waren Teenager aus ihnen geworden, die Englisch wie Deutsch sprachen, aber Englisch bevorzugten. Zwischen unserer Ankunft in New York und dem Angriff auf das World Trade Center lagen knapp zwei Wochen. Wir haben es nie aufs Dach geschafft, um von dort nach Delaware zu gucken. Das Telefon zu Hause klingelte ständig, Freunde, Verwandte, Bekannte, Kollegen. Sie machten sich Sorgen. Alle, alle, alle fragten: »Wann kommt ihr zurück nach Deutschland, wann kommt ihr nach Hause?« Und die Frau antwortete wahrheitsgemäß:
»Wir sind zu Hause.«
Emergency on King Street
Beethoven, Handwerk und Katastrophen
Der Bücherberg im Wohnzimmer machte sich nach einer Weile sogar ganz gut, er störte kaum noch. Er gehörte irgendwie zur Familie in den Wochen nach den Anschlägen, als Amerika erstarrte und wir keine Zeit hatten, an den Bücherberg auch nur zu denken. Manchmal legten die Töchter des Hauses Decken über den Berg, aber die Decken machten das Zentralmassiv nur noch massiver. Er lag da, gewaltig, unsortiert, an seiner Nordflanke eher die Taschenbücher, die Südflanke Hardcover, gestützt auf einen Gletscher von Lexika, und ganz weit oben, fast unterhalb des Gipfels, Rolf Winters »Ami Go Home«. Ein imposanter Berg war das, dank der spontanen Eingebung von Richard, Samuel und Larry, Bronx.
Der Mann war ohnehin selten zu Hause und konnte sich beim Abtragen des Massivs daher kaum nützlich machen, und die Frau hatte auch keine Zeit, denn sie kämpfte tapfer, sehr tapfer, mit den ersten Tücken unserer Villa Kunterbunt. Mitunter sprach sie: »Es werde Licht«, und sie drückte auf einen Schalter, aber es wurde kein Licht. Und es wurde auch kein warmes Wasser. Erst kam der Elektriker und fummelte an drei Leitungen und kassierte 93 Dollar. Nach dem Elektriker kam der Klempner. Er heißt Dave, wir haben uns an seinen Namen gewöhnen müssen. Dave schlackste die Kellertreppe hinunter Richtung Stützpfeilerwald und Kabelsalat und drückte auf einen Lichtschalter. Die Frau sprach: »Sorry, das Licht im Keller geht nicht«, und Dave sagte: »Sorry, aber das ist kein Lichtschalter. Das ist der Schalter für den Warmwasserboiler.« Machte 93 Dollar. Dave hat die unangenehme Angewohnheit, bei seinen Besuchen Beethovens Neunte zu pfeifen, denn er war, wie sich herausstellte, deutscher Abstammung, kannte aber aus dem Land seiner Vorfahren lediglich Autobahn und Beethoven, den er allerdings für einen Belgier hielt.
Dave war in den ersten Wochen und Monaten sehr oft zu Gast bei uns, und die Töchter grüßten ihn wie einen guten Bekannten, »Hi Dave«. Einmal kam er und setzte die Waschmaschine wieder in Gang. Zu diesem Zweck schraubte er das Gerät mehr oder weniger komplett auseinander. Amerikanische Waschmaschinen sind nun etwa so groß wie europäische Kleinwagen, was zwar nichts, nichts, nichts über die Waschqualität aussagt, denn europäische Wäsche wird hier nur sauber mit ausreichend Bleichstoff, das heißt: an sich gar nicht sauber, aber das ist eine andere Geschichte.
In der Küche sah es bald aus wie in einer Autowerkstatt, statt Öl nur Wasser, viel Wasser. Nach ein paar Stunden hatte Dave das Puzzle endlich zusammengesetzt, und sie funktionierte wieder. Bis abends. Dave hatte dummerweise eine Plastikschüssel im Waschmaschinenbauch vergessen wie Chirurgen gelegentlich Skalpelle in Patientenmägen. Irgendwann begann es, unangenehm nach Kunststoff zu stinken.
Am nächsten Tag kam er wieder, zerlegte die Waschmaschine abermals und fragte die Frau, während er schraubte und pfiff: »Kommt ihr eigentlich aus dem guten oder dem bösen Deutschland?« Sie sagte ihm, dass das doch stark von der Sichtweise abhänge. Und er erwiderte knapp: »Ich meine: Osten
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