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StatusAngst

StatusAngst

Titel: StatusAngst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain de Botton
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immer mehr haben, und sie litten schwer unter dem Gedanken, dass andere etwas besaßen, das ihnen noch fehlte. In einem Kapitel seines Buches Über die Demokratie in Amerika (1835), das er mit dem Titel »Unruhe mitten im Wohlstand« versah, entwarf er ein skizzenhaftes, doch bis heute gül tiges Bild der Beziehung zwischen Unzufriedenheit und hohen Erwartungen, zwischen Neid und Gleichheit:
    »Sind alle Vorrechte der Geburt und des Besitzes aufgehoben, sämtliche Berufe jedermann zugänglich,... so ist es, als öffne sich dem Ehrgeiz der Menschen eine unabsehbare und bequeme Laufbahn, und sie bilden sich gerne ein, dass sie zu Großem berufen seien. Aber dies ist eine irrige Ansicht, die durch die Erfahrung täglich berichtigt wird.... Ist die Ungleichheit das allgemeine Gesetz einer Gesellschaft, so fallen die stärksten Ungleichheiten nicht auf ist alles ziemlich eingeebnet, so wirken die geringsten Unterschiede kränkend.... Das ist der Grund für die merkwürdige Melancholie, welche die Bewohner der Demokratien inmitten ihres Überflusses plagt, und jenes Lebensüberdrusses, der sie manchmal selbst unter ruhigen und harmlosen Umständen ergreift. In Frankreich sind wir über die wachsende Zahl der Selbstmorde besorgt. In Amerika kommt der Selbstmord selten vor, aber man versichert mir, der Wahnsinn sei verbreiteter als überall sonst.«
    Tocqueville, der mit den Beschränkungen der Feudalgesellschaft vertraut war, hatte nicht den Wunsch, zu den vorrevolutionären Zuständen zurückzukehren. Er wusste, dass die Bürger der abendländischen Neuzeit ungleich besser lebten als die niederen Stände des europäischen Mittelalters. Dennoch begriff er, dass diese Besitzlosen mit einer inneren Ruhe gesegnet waren, die ihren Nachfolgern nun für immer verloren ging:
    »Als die Königsmacht, auf den Adel gestützt, friedlich über die Völker Europas herrschte, erfreute sich die Gesellschaft inmitten ihrer Nöte mancher Arten des Glücks, die man in unserer Zeit nur schwer erkennen und würdigen kann. ... Das Volk, das keinen andern als seinen eigenen sozialen Zustand kannte und nie daran dachte, es könnte seinen Herren gleich werden, nahm deren Wohltaten entgegen und stellte deren Rechte nicht in Frage. Es liebte sie, wenn sie mild und gerecht waren, und unterwarf sich ergeben und ohne Selbsterniedrigung ihren Härten wie unvermeidlichen, von Gott gesandten Übeln. ... Da der ... Hörige in seinem niedrigen Stand die Folge einer unveränderlichen Naturordnung sah, ist es verständlich, dass zwischen den beiden vom Schicksal so verschiedenartig bedachten Ständen eine Art wechselseitigen Wohlwollens entstehen konnte. Man sah damals in der Gesellschaft zwar Ungleichheit und Elend, aber es gab keine seelische Entwürdigung.«
    Die Demokratien hatten jedoch auch die Erwartungen entgrenzt. Alle Mitglieder der Gesellschaft fühlten sich theoretisch gleichwertig, auch wenn ihnen die Mittel fehlten, eine materielle Gleichstellung zu erzielen. »Ich habe in Amerika«, schrieb Tocqueville, »keinen noch so armen Bürger angetroffen, der nicht Blicke der Hoffnung und des Neides auf die Genüsse der Reichen würfe«. Die Armen beobachteten die Reichen aus nächster Nähe und rechneten darauf, eines Tages in ihre Fußstapfen zu treten. Nicht immer blieb das eine Illusion. So mancher, der aus den ärmsten Verhältnissen stammte, machte ein Vermögen, doch blieb es die Ausnahme von der Regel. Auch Amerika hatte seine Unterschicht. Aber im Unterschied zur Feudalgesellschaft konnten die arm bleibenden Amerikaner ihre Lage nur als Enttäuschung ihrer Aufstiegserwartungen erleben.
    Das unterschiedliche Erleben der Armut im Feudalismus und in der Demokratie trat nach Ansicht Tocquevilles besonders im Verhalten der Untergebenen gegenüber ihren Herren zutage. Im Feudalismus fügten sich die Hörigen zumeist bereitwillig in ihr Schicksal; sie konnten, so Tocqueville, »von edlen Gedanken, von unbändigem Stolz und von Selbstachtung erfüllt sein«. In den Demokratien jedoch werde den Untergebenen durch Presse und öffentliche Meinung unablässig suggeriert, dass sie auf der Leiter des Erfolgs ganz nach oben gelangen, dass sie Unternehmer, Richter, Wissenschaftler oder Präsident werden könnten. Obwohl dieser Glaube an ihre unbegrenzten Möglichkeiten anfänglich und besonders bei den Jüngeren eine vordergründige Zuversicht auslösen könne und obwohl dies den talentiertesten und den Glückspinseln unter ihnen ermögliche, ihre Ziele zu

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