Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
StatusAngst

StatusAngst

Titel: StatusAngst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain de Botton
Vom Netzwerk:
abwegig war wie der Wunsch einer Zehe, zum Auge zu werden.
     

    Mittelalterliche Darstellung der hierarchischen Ordnung: Jacobello del Fiore, Mariae Krönung im Paradies, 1438

 
5
     
    Erst um die Mitte des 17.Jahrhunderts begann sich das politische Denken in eine egalitäre Richtung zu bewegen.
    Thomas Hobbes mutmaßte in seinem Leviathan (1651), Individuen hätten bereits vor der Entstehung der Gesellschaft existiert und sich ihr nur aus Nutzdenken angeschlossen, dabei aber ihre Naturrechte preisgegeben, um Geborgenheit zu erlangen — ein zukunftweisender Gedanke, den John Locke ein paar Jahrzehnte später in seinen Zwei Abhandlungen über die Regierung (1689) aufgriff. Gott habe nicht Adam »private Herrschaft« über die Erde verliehen, argumentierte Locke, sondern der »Menschheit im Ganzen« und zum Nutzen aller. Die Herrscher seien lediglich die Instrumente des Volkes, und Gehorsam könnten sie nur insoweit einfordern, als sie dem allgemeinen Wohl dienten. Damit war die erstaunlich moderne Idee geboren, dass die Legitimation einer Regierung in ihrer Befähigung liegt, jedem im Volk Wege zu Wohlstand und Glück zu eröffnen.
    Die Forderung nach politischer, sozialer und ökonomischer Gleichberechtigung hatte also bereits über hundert Jahre in der Luft gelegen, als sie in der Amerikanischen Revolution von 1776 schließlich ihren konkreten, dramatischen Niederschlag fand. In größerem Maße vielleicht als jedes andere Ereignis der abendländischen Geschichte (einschließlich der Französischen Revolution, die ihr folgte) veränderte diese Revolution die Grundlagen des sozialen Status, indem sie die alte Adelshierarchie, die dem Fortkommen des Einzelnen enge Grenzen setzte und Status an den sozialen Rang der Herkunftsfamilie band, durch eine dynamische Wirtschaftsordnung ersetzte, in der sich der Status aus dem (primär finanziellen) Erfolg jeder neuen Generation ableitete.
    Um 1791 schrieb der Geograph Jedidiah Morse über Neuengland, dies sei ein Ort, »wo jedermann sich mindestens so gut dünkt wie seine Nachbarn und glaubt, dass alle Menschen gleiche Rechte haben oder haben sollten«. Die amerikanischen Umgangsformen nahmen eine demokratische Wendung. Diener hörten auf, ihre Herren »Master« und »Mistress« zu nennen. Die Titel »Esquire« und »Euer Ehren« wurden abgeschafft. Alle amerikanischen Staaten tilgten das Erstgeburtsrecht und gaben Töchtern und Witwen die gleichen Eigentumsrechte wie ihren männlichen Angehörigen. Der Arzt und Historiker David Ramsay verkündete am 4. Juli 1778 in seiner Rede über die Vorzüge der amerikanischen Unabhängigkeit, das Ziel der Revolution sei es, eine Gesellschaft zu schaffen, in der »alle Ämter verdienstvollen Männern gleich welchen Ranges oder Standes offen stehen. Auch die Zügel des Staates können vom Sohn des ärmsten Mannes übernommen werden, so denn seine Fähigkeiten dieser bedeutsamen Aufgabe entsprechen.« Thomas Jefferson erklärt in seiner Autobiographie, sein Leben sei darauf gerichtet gewesen, den »Adel der Tugend und der Begabung« an die Stelle des alten Adels der ererbten Privilegien und häufig auch der brutalen Dummheit zu setzen.
    Für Walt Whitman lag die Größe Amerikas im Prinzip der Gleichheit begründet, die aller Ergebenheit ein Ende gemacht habe. Im Vorwort zu seinem Gedichtband Grashalme (1855) schrieb er: »Der Genius der Vereinigten Staaten ist am besten oder am stärksten weder in ihren Exekutiven und Legislaturen noch in ihren Botschaftern oder Schriftstellern oder Colleges oder Kirchen oder Salons oder gar Zeitungen und Erfindern ... sondern immer und vor allem in den gewöhnlichen Leuten ... mit dem Gebaren von Menschen, die nie erfuhren, wie es war, der Obrigkeit gegenüberzutreten ... dem schrecklichen Gewicht ihrer Wahlentscheidungen — der Präsident zieht den Hut vor ihnen und nicht sie vor ihm ...«
     

 
6
     
    Aber selbst für Bewunderer wirtschaftlicher und politischer Umwälzungen war nicht zu übersehen, dass die modernen, egalitären Gesellschaften, die aus ihnen hervorgingen, mit einem ganz besonderen Problem belastet waren. Zu den ersten, die darauf aufmerksam wurden, zählt Alexis de Tocqueville.
    Bei seinen Reisen durch die jüngst entstandenen Vereinigten Staaten stellte der französische Jurist und Historiker bereits in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts ein ganz spezielles Übel fest, das die Seelen der Bürger der jungen Republik zerfraß: Trotz ihres Reichtums wollten die Amerikaner

Weitere Kostenlose Bücher