StatusAngst
dass spirituelle Belange nicht in Vergessenheit gerieten.
In den vier Jahrhunderten zwischen 1130 und 1530 wuchsen überall in Europa Hunderte von Kathedralen in den Himmel, ihre Türme beherrschten die Landschaft, gewaltige Kirchenschiffe überragten die Kornspeicher, Paläste, Ämter, Werkstätten und Wohnhäuser. Kaum ein anderes Bauwerk reichte an solche Pracht und Größe heran, und sie schufen einen Ort, an dem sich Menschen aus allen Lebensbereichen sammelten, um Gedanken nachzuhängen, die, zumindest aus baugeschichtlicher Sicht, ungewöhnlich waren, Gedanken über den Gewinn von Kummer und der Unschuld, Demut und Barmherzigkeit. Während die anderen Bauten allen möglichen irdischen Zwecken dienten, lag die einzigartige Bestimmung der Kathedralen darin, den Geist von egoistischen Regungen zu befreien und die Gläubigen zu Gott und seiner Liebe hinzuführen. Die Städtebewohner, die ihren täglichen Verrichtungen nachgingen, blieben schon angesichts der Silhouetten dieser gewaltigen Bauwerke der Lebensvision eingedenk, die alle irdische Erfolgssucht konterkarierte. Eine Kathedrale wie die von Chartres, deren Türme - wie ein Hochhaus mit 34 Stockwerken - 105 Meter in den Himmel ragen, galt als Heimstatt der Besitzlosen, als wundersame Verheißung dessen, was sie im Jenseits erwartete. Wie elend ihre tatsächlichen Behausungen auch immer sein mochten, in der Kirche hatten sie ein Zuhause. Deren Pracht war ein Spiegelbild ihrer inneren Welt, deren bunte Fenster und Deckengewölbe machten die frohe Botschaft Jesu leuchten.
Kathedrale von Chartres
2
Dem Christentum gelang es selbstredend nicht, den Weltstaat und seine Werte abzuschaffen, doch wenn wir Wohlstand nicht automatisch mit Wert gleichsetzen, wenn wir dabei noch fragen, ob ein Mensch gut oder einfach nur prominent sei, liegt das zu einem großen Teil an dem Maß, in dem abendländisches Denken von einer Religion geprägt wurde, die über Jahrhunderte Mittel und Macht daransetzte, ein paar außergewöhnliche Ideen über die gerechte Zuweisung von Status in den Köpfen der Gläubigen zu verankern. Dem Genius christlicher Künstler verdanken wir Monumente und Kunstwerke, die ihren Glaubensgrundsätzen bleibende und uns durch den kunstvollen Einsatz von Stein, Glas, Klang, Wort und Bild greifbare Gestalt verliehen.
Während uns die säkularen Bauten der modernen Großstädte unablässig suggerieren, dass es vor allem auf die irdische Macht ankommt, erinnern die Kathedralen nach wie vor an die Priorität der geistigen Existenz.
V. Boheme
Lee Miller, Frühstück im Freien, 1937. Surrealisten bei einem Picknick in Mougins, Frankreich. Links: Nusch und Paul Eluard, rechts: Ady Fidelin, Man Ray und Roland Penrose
1
Zu Beginn des 19.Jahrhunderts machte in Europa und den Vereinigten Staaten eine neue Gruppierung von sich reden. Ihre Vertreter kleideten sich einfach, sie wohnten in ärmlichen Stadtvierteln, sie lasen viel und schienen nicht sehr an Geld interessiert, dabei jedoch häufig melancholischer Disposition, sie verschrieben sich eher Kunst und Gefühl als dem Geschäft und dem materiellen Erfolg, sie lebten vielfach ausgesprochen freizügig, manche der Frauen trugen ihr Haar schon kurz, bevor es modern wurde — und bekannt wurden sie unter der Bezeichnung »Bohemiens«. Ursprünglich hatte man mit diesem Begriff die Zigeuner bezeichnet, in der irrigen Annahme, sie kämen aus Böhmen, doch vor allem seit dem Erfolg der Scenes de la vie de Bohème (1851), Henri Murgers Schilderung des Lebens in den Mansarden und Cafés von Paris, nannte man alle so, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht den bürgerlichen Vorstellungen von Sitte und Anstand entsprachen.
Von Anfang an war die Boheme ein Sammelbecken. Frühe Chronisten behaupteten, Bohemiens fänden sich in allen Klassen der Gesellschaft, in jeder Altersgruppe, in jedem Beruf: Männer und Frauen, reich und arm, Dichter, Juristen, Forscher und Müßiggänger. Arthur Ransome schrieb in Bohemia in London (1907): »Die Boheme kann überall sein: Sie ist kein Ort, sondern eine Geisteshaltung.« Es hat Bohemiens in Cambridge, Massachusetts und in Venice Beach, Kalifornien gegeben, es hat Bohemiens mit Bediensteten gegeben und solche, die einfache Hütten an einsamen Seen bewohnten, es hat unter ihnen Gitarren spieler und Biologen gegeben, die nach außen hin Angepassten und die, die bevorzugt nackt im Mondschein badeten. Das Etikett lässt
Weitere Kostenlose Bücher