StatusAngst
1869
Gemeinschaft
1
Dem Credo einer recht einflussreichen Fraktion innerhalb unserer säkularen Gesellschaft zufolge gibt es kaum Schlimmeres, als zu sein »wie alle anderen«. Das impliziert Mittelmäßigkeit, Anpassung, Langeweile und Provinzialität. Jeder vernünftige Mensch sollte bestrebt sein, sich mit seinen Talenten von der Masse abzusetzen und etwas »Besonderes« darzustellen.
2
Aus christlicher Sicht hingegen ist es kein Unglück, so zu sein »wie alle anderen«, denn eine der Kernbotschaften Jesu besagt, dass alle Menschen, auch die tumben, die untalentierten, die unsichtbaren, Geschöpfe Gottes sind und von ihm geliebt, daher sie den gleichen Respekt verdienen wie alles, was Gott geschaffen hat. Nach den Worten des heiligen Petrus vermag jeder an der »göttlichen Natur« teilzuhaben - eine Aussage, die sich dem Glauben, manche seien zur Mittelmäßigkeit, andere zu Großem geboren, dreist entgegenstellt. Die Liebe Gottes umfasst alle Menschen ohne Ausnahme, versichert der christliche Glaube und verleiht damit dem Gebot der gegenseitigen Achtung göttliche Autorität. Was wir mit anderen gemein haben, schließt ein, was an uns am liebenswertesten ist.
Das Christentum gebietet uns, unter die Oberfläche menschlicher Unterschiede zu schauen und nach den Grundwahrheiten zu suchen, auf denen sich das Gefühl der Gemeinschaft, der Verwandtschaft und Zusammengehörigkeit errichten lässt. Menschen sind oft grausam, ungeduldig, dumm oder abgestumpft, doch zügeln und verbinden sollte uns die Tatsache, dass wir alle verletzlich sind. Hinter unseren Fehlern und Schwächen verbirgt sich stets zweierlei: Angst und das Verlangen nach Liebe.
Um das Gefühl der Brüderlichkeit zu stärken, empfahl Jesus, Erwachsene so zu sehen, als wären sie Kinder. Wenig verändert unseren Eindruck von anderen schneller, als sie sich uns als Kinder vorzustellen. Aus dieser Warte sind wir viel eher bereit, das Mitgefühl und die Großzügigkeit an den Tag zu legen, die wir Rindern fast automatisch gewähren. Kinder sind für uns »ungezogen« und nicht »böse«, »frech« und nicht »arrogant«. Ein Kind zu hassen fällt so schwer, wie einen Schlafenden zu hassen. Mit ihren geschlossenen Augen und entspannten Gesichtszügen erwecken die wehrlosen Schläfer in einem Maß Gefühle der Fürsorge und Zuneigung, dass wir schnell verlegen werden und den Blick abwenden, wenn wir Menschen, die im Zug oder Flugzeug neben uns schlafen, länger betrachten. Schlafende Gesichter schaffen eine Intimität, die das Konstrukt zivilisierter Gleichgültigkeit, das sonst unsere zwischenmenschlichen Beziehungen regelt, in Frage stellt. Aber so etwas wie einen Fremden gibt es nicht, würden die Christen dagegenhalten; der Eindruck der Fremdheit kann nur entstehen, wenn man nicht anerkennt, dass andere Menschen die gleichen Bedürfnisse und Schwächen haben wie wir. Es gibt kein edleres oder menschlicheres Gefühl als die Gewissheit, dass wir in wesentlicher, ja entscheidender, Hinsicht tatsächlich so sind wie alle anderen.
3
Der Gedanke, dass andere Menschen vielleicht gar nicht so unbegreiflich oder abstoßend sind, hat gravierende Auswirkungen auf unser banges Kreisen um Status — wird doch der Wunsch, sich sozial auszuzeichnen, in hohem Maße von der Angst genährt, einfach nur ein gewöhnlicher Mensch zu sein. Je schmachvoller, hohler, gemeiner oder hässlicher uns ein gewöhnliches Leben erscheint, desto stärker der Lockruf individuellen Erfolgs.
Das Christentum versucht seit seinem Bestehen mit Wort und Tat, uns den Wert der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft näher zu bringen. Ein Mittel dazu war immer das Ritual des Gottesdienstes und die Darbietung von Kirchenmusik. Viele Menschen kommen bei diesen Gelegenheiten zusammen und erleben dank eines transzendentalen Mittlers, dass das gegenseitige Misstrauen verfliegt.
Stellen wir uns vor, wir besuchen eine Kathedrale, um die h-Moll-Messe von Bach zu hören (»das größte musikalische Werk aller Zeiten und aller Völker« — Hans-Georg Nägeli, 1817), und stoßen auf solch ein fremdes Publikum. Es mag uns viel von den anderen trennen: Alter, Einkommen, Kleidung und Herkunft. Mit keinem dieser Menschen haben wir je gesprochen, und wir vermeiden jeden Blickkontakt. Aber mit dem Beginn der Messe setzt auch ein Prozess sozialer Alchemie ein. Die Musik bringt Gefühle zum Ausdruck, die wir bisher als privat, als ungeformt empfanden, und
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