StatusAngst
sich den unterschiedlichsten künstlerischen und gesellschaftlichen Phänomenen der letzten zweihundert Jahre anhängen, von der Romantik bis zum Surrealismus, von den Beatniks bis zu den Punks, von den Situationisten bis zu den Kibbuzniks, und man hätte mit wesentlichen Grundzügen keinen Schwindel getrieben.
1929 lud der Londoner Boheme-Dichter Brian Howard seine Freunde zu einer Party ein und bedruckte die Einladungskarte mit einer Aufstellung für und gegen, die, wiewohl vom englischen Zeitgeschmack gefärbt, nicht nur typisch ist für die Neigungen und Ängste aller Bohémiens:
WAS ICH HASSE
Damen und Herren
Public Schools
Debütanten
Sadistische Freunde des Jagdsports
»gute Partien«
Missionare
Leute, die andere wegen ihres »schlechten Rufs« meiden
Junge Herren, wie man sie auf langweiligen Partys in protzigen Landhäusern findet
WAS ICH LIEBE
Männer und Frauen Nietzsche Picasso Kokoschka
Jazz
Akrobaten Das Mittelmeer D. H. Lawrence Havelock Ellis
Die Sorte Menschen, die wissen, dass ihre Seele nicht unsterblich ist, und nach dem Tod nicht irgendein blödsinniges Wiedersehen, eine Apotheose oder SONSTWAS erwarten.
Was Brian Howard und seine Freunde hassten, ließe sich in einem Wort zusammenfassen: die Bourgeoisie. Die Bohemiens, fast zeitgleich mit dieser im nachnapoleonischen Frankreich erstmals in Erscheinung getreten, gefielen sich in rabiater Verachtung für alles Bourgeoise und überboten sich gegenseitig in extravaganten Schmähungen.
»Der Hass auf den Bürger ist der Anfang aller Tugend«, schrieb Gustave Flaubert, durchaus comme il faut für den französischen Romancier der Zeit, dem diese Verachtung nicht minder anstand als die Liebelei mit einer Schauspielerin oder die Reise in den Orient. Flaubert zieh die Bourgeoisie der Prüderie und des Materialismus, sie sei gleichermaßen zynisch wie sentimental, mit Trivialität befasst, etwa der endlosen Debatte, ob die Melone nun Obst oder Gemüse sei und ob man sie (auf französische Art) als Entree oder (auf englische) als Dessert genießen solle. Stendhal, ebenfalls kein Freund der Bourgeoisie, bekannte: »Die Unterhaltung des wahren Bourgeois über das Leben und die Menschen, die nichts weiter ist als eine Ansammlung hässlicher Details, verursacht mir schwere Gallenkoliken, wenn ich ihr auch nur für kurze Zeit zu lauschen gezwungen bin.«
Die eigentliche Kluft zwischen Bohémien und Bourgeois bestand jedoch nicht in der Wahl der Gesprächsthemen oder Desserts, sondern der Antwort auf die Frage, wem ein hoher Status gebühre und wofür. Die Bohemiens jedenfalls, ob sie nun eine Villa bewohnten oder eine Dachkammer, stemmten sich von Anfang an gegen die meritokratische Rangordnung, die sich im frühen 20.Jahrhundert ausbildete.
2
Kern des Konflikts war die gegensätzliche Bewertung weltlicher Güter einerseits und der Empfindsamkeit andererseits. Während die Bourgeoisie Status am Geschäftserfolg und am öffentlichen Ansehen maß, zählte für die Bohémiens vor allem anderen die Frage, ob man sich ein standesgemäßes Logis oder Kleider leisten könne, allemal, dass man für Eindrücke empfänglich war und sich ganz, sei es als Betrachter oder Schöpfer, dem einen großen Hort des Gefühls und der Empfindsamkeit widmete, nämlich der Kunst. Märtyrer waren für die Bohémiens diejenigen, die die Sicherheit einer festen Anstellung aufgegeben hatten, um zu schreiben, zu malen oder zu musizieren oder sich dem Reisen, ihren Freunden oder Familien zu widmen. Möglich zwar, dass ihre äußere Erscheinung und ihr Auftreten — ihrer Berufung wegen - zu wünschen übrig ließen, doch die höchste Ehre gehörte nach Meinung der Bohémiens ihnen, weil sie so sehr mit ethischem Feinsinn, Empfindsamkeit und Ausdruckskraft begabt seien.
Viele Bohémiens waren bereit, für ihre Überzeugungen Opfer zu bringen, ja zu hungern. Auf Gemälden des 19. Jahrhunderts sieht man sie oft in den engen Dachkammern der Mietshäuser darben. Sie wirken schmal, ausgezehrt, der Blick geht träumerisch entrückt durch uns hindurch wie der kältere eines Totenschädels auf dem Wandbord im Bildhintergrund. Ein Blick, angetan, einen Vorarbeiter oder Bürovorsteher zu erschrecken — Ausdruck dafür, dass in ihren Seelen kein Platz sei für das seichte Nutzdenken, welches sie der Bourgeoisie nachsagten.
Not war der Preis für die Weigerung, das ganze Leben einer hassenswerten Beschäftigung nachzugehen. Charles Baudelaire erklärte jede
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