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und korrupt. Der andere mag wie Lazarus im Lukas-Evangelium Lumpen tragen und trotzdem Gottes Gnade teilhaftig sein.
In Über den Gottesstaat (427 n. Chr.) erklärt Augustinus, alles Handeln könne entweder nach christlicher oder nach römischer Sicht beurteilt werden, und ein jegliches, was von den Römern so hochgeschätzt — Reichtümer anhäufen, Villen errichten, Kriege führen — zähle nach Christenmaßstab überhaupt nicht, gänzlich andere Tugenden — Nächstenliebe, Demut, Wohltätigkeit und Gottesfurcht - seien die Schlüssel zu einem erhabenen christlichen Rang. Augustinus sah diese zwei Wertsysteme in der Existenz des Weltstaates und des Gottesstaates verkörpert, die bis zum Jüngsten Tag getrennt voneinander fortbestehen würden. Man könne im Weltstaat König sein, im Gottesstaat nur dessen Knecht.
Dante schmückte diese Vorstellung weiter aus, indem er bis ins Detail beschrieb, welchen Platz die Toten in der letzten Gestalt christlicher Hierarchie einnehmen würden: Himmel und Hölle. In der Göttlichen Komödie (1315) benennt er nicht weniger als neun Höllenkreise (mit wiederum 17 Stufen), jeweils bestimmten Sündern vorbehalten, während die zehn Sphären des Himmels für bestimmte Tugenden reserviert sind. Seine religiöse Hierarchie ist ein verzerrtes oder spiegelverkehrtes Abbild der weltlichen. Die Hölle beherbergt Gestalten, die als Lebende einen hohen Rang bekleideten: Feldherren, Literaten, Dichter, Kaiser, Bischöfe, Päpste, Kaufleute, die nun aller Privilegien beraubt sind, leiden stille Qual, weil sie Gottes Gesetze missachteten. Im neunten Kreis der Hölle hört Dante die Schreie derer, die im Leben mächtig waren, aber Verrat begingen und nun im Maul des dreiköpfigen Luzifer fortwährend zermalmt werden. Im siebenten Kreis gelangt der Dichter an eine Schlucht, durch die brodelnd das Blut rauscht; Alexander der Große und der Hunnenkönig Attila kämpfen darin gegen das Ertrinken an, während vom Steilufer eine Gruppe Zentauren Pfeile über sie hinwegschießt, um sie in die schäumende Flut zurück zu zwingen. Der fünfte Kreis besteht aus einem stinkenden Pfuhl, in dem die Mächtigen und Zornigen, die das Leben anderer nicht achteten, dazu verdammt sind, im Schlamm zu ersticken. Im dritten Kreis regnet Kot auf diejenigen herab, die einst der Völlerei frönten.
Die Diskrepanz zwischen dem irdischen und dem Jenseits-Status bot Gläubigen einen Ausweg aus der bedrückend eindimensionalen Sicht des Erfolgs. Das christliche Weltbild kam zwar seinerseits nicht ohne Hierarchien aus, wohl aber definierte es Erfolg und Scheitern nach ethischen statt materiellen Maßstäben um und beharrte darauf, dass Armut sich mit Güte vertrug, eine niedere Tätigkeit mit Seelenadel. »Denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat«, verkündet Lukas, Anhänger des mittellosen Zimmermanns aus Galiläa.
Gustave Doré, Die Gewalttäter, vorn Feuerregen gepeinigt, 1861
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Die Christen beließen es aber nicht dabei, den spirituellen über den materiellen Erfolg zu stellen, sie verliehen den von ihnen geschätzten Werten bezwingende Würde und Erhabenheit — teils durch obrigkeitlichen Einsatz von Malerei, Literatur, Musik und Baukunst. Kunstwerke sollten für Tugenden werben, die weder den Herrschenden noch ihrem Volk als Richtmaß unbedingt in den Sinn gekommen wären.
Waren die besten Steinmetze, Dichter, Musiker und Maler einst aufgerufen, den Glanz der Kaiser und die blutigen Siege ihrer Legionen über Barbarenhorden zu feiern, stellten sie ihre Talente nun jahrhundertelang in den Dienst von guten Werken wie Nächstenliebe und Respekt vor der Armut. Die Glorifizierung weltlicher Werte lebte selbstverständlich in diesen Zeiten fort — Schlösser und Paläste kündeten weiterhin vom Reiz merkantilen Gewinns, des Großgrundbesitzes und der Macht —, doch die imposantesten Bauwerke vieler Städte ehrten, zumindest eine Zeit lang, nicht die Macht der Königs- und Unternehmerdynastien, sondern den Adel der Armut, und die bewegendste Musik besang nicht persönliche Erfüllung, sondern den Opfergang des Gottessohns:
Er ward verachtet und von den Menschen zurückgestoßen,
ein Mensch der Schmerzen und erfüllt mit Gram.
Nach Jesaja, 53,3, Händel, Messias (1741)
Gustave Doré, Die Diebe, von Schlangen gepeinigt, 1861
Mit den ästhetischen Mitteln der Baukunst, Malerei und Musik schuf das Christentum ein Bollwerk gegen die Vormacht der irdischen Werte und sorgte dafür,
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