Staub zu Staub
können.
„’Tschuldige. Ich bin’s, Kristin.“
„Hi.“
„Ich habe über deinen Geiger recherchiert.“ Kristin zögerte. „Hast du geweint?“
Mirjam schüttelte den Kopf, brachte aber keinen Ton heraus.
„Hallo? Bist du noch dran?“
„Ja. Und n-nein, ich habe nicht geweint.“
„Süße …“
„Was hast du über den Solisten gefunden?“, fiel sie ihr ins Wort. Am wenigsten wollte sie jetzt über ihre Gefühle sprechen. Sonst würde sie aus dem Heulen gar nicht mehr herauskommen.
„Tja, über ihn ist kaum etwas zu erfahren. Abgesehen von der Tatsache, dass er mehr Preise gewonnen hat, als ich Sommersprossen habe und vor Personen ge-spielt hat, die römische Zahlen im Namen haben. Man könnte glauben, er hätte vor seinem Musikerfolg keine Vergangenheit gehabt. Aber! Rate mal, womit er seinen Durchbruch hatte.“
„Vier Jahreszeiten?“
„Bingo! Also, ich werde mit diesem Helmgren reden. Bist du dabei?“
„Stockholm ist eine ganze Ecke von hier entfernt.“
„Nicht Stockholm. Hamburg. Er ist seit acht Monaten der erste Konzertmeister der Hamburger Philharmoniker. Kommenden Sonntag und Montag spielen sie in der Staatsoper. Willst du mit?“
„Montag. Ich werde da sein.“
Erster Konzertmeister. Sie dachte an einen etwas älteren Herrn mit blondem Haar und blauen Augen. So wie man es von Skandinaviern erwartete.
Kapitel 3
Das Handy trällerte Tilse aus dem Schlaf. Die letzten Fetzen des Traumes, etwas Beunruhigendes und Zusammenhangloses, streiften durch seinen Kopf. Die Digitaluhr zeigte 23:15. Er setzte sich auf die Bettkante. Mit den Füßen tastete er nach den Hausschuhen und schlurfte zum Regal, wo in einer Kristallschale zusammen mit dem Schlüsselbund, einzelnen Schrauben und Hustenbonbons sein Handy lag. Die auf dem Display angezeigte Nummer gehörte Köhler. Wieso rief er an? War etwas passiert? Verdammt, er und Walters mussten doch nur den alten Preschke ins Kloster bringen.
Das Bett knarzte und unter der Decke lugte Sandras verschlafenes Gesicht hervor. „Was ist los?“, murmelte sie und rieb sich die Augen. Ihr kurzes, blondes Haar erinnerte ihn an einen Igel. Er vermisste ihre Lockenmähne, in die er früher sein Gesicht vergraben konnte.
„Arbeit.“ Er ging zurück, strich ihr über die Wange und küsste ihre Stirn. „Ich muss kurz telefonieren. Schlaf weiter.“
„Arbeit? Es ist Nacht!“
„Ein Unternehmer zu sein bedeutet manchmal Stress. Schlaf jetzt. Dein Wecker steht auf fünf.“
Sie brummte und kuschelte sich in die Decke ein. Tilse küsste sie noch einmal und schlich ins Wohnzimmer. Während er den Tönen aus dem Handy lauschte, ging er zur halb geöffneten Tür gegenüber. Durch den Spalt verströmte eine Salzkristalllampe ihr warmes, orangefarbenes Licht.
„Ja?“, meldete sich Köhler.
„Gibt es Probleme?“ Tilse trat ans Himmelbett und steckte den Kopf zwischen die rosafarbenen Tüllvorhänge. Sein Dornröschen hatte sich aus der Decke gestrampelt und drückte einen ausgeblichenen Marienkäfer aus Plüsch fest an sich. Er hatte ihr das Spielzeug geschenkt, als er sie zum ersten Mal im Arm halten durfte. Vor seinem inneren Auge sah er den Moment, wie sie ihn mit ihrem Baby-Lächeln begrüßt und die winzigen Hände nach ihm ausgestreckt hatte. Seine Zungenspitze erinnerte sich noch an die Berührung des Gaumens, als er zum ersten Mal ihren Namen ausgesprochen hatte: Lisa.
„Gibt es Probleme?“, wiederholte Tilse diesmal mit mehr Nachdruck, als aus dem Telefon kein Ton kam.
„Pater Preschke ist tot.“
„Was?“ Durch seinen Ausruf umarmte die Kleine ihren Marini noch fester und steckte sich eine Plüschpfote in den Mund. Tilse senkte die Stimme. „Wie konnte das passieren?“
Wieder Stille.
„Das war keine rhetorische Frage!“
„Selbstmord.“
„Hören Sie, Köhler, für wie blöd halten Sie mich eigentlich? Friedmann hat ihn heute besucht. Selbstmord wäre das Letzte, wozu er imstande gewesen wäre.“
„Er hat sich mit dem Rollstuhl die Treppe hinuntergestürzt. Genickbruch. Ich konnte nichts tun. Er hat gebetet und Gott war bei ihm.“
„Gott ist immer da! Und wo waren Sie?“
Die Kleine wimmerte im Schlaf. Tilse deckte sie zu und streichelte ihren Kopf. Wenigstens diese Locken konnte er noch berühren.
Köhler seufzte. „Ich weiß nicht, was wir machen sollen. Alles ist verloren.“
„Lassen Sie das Gejammer. Weiß der Spiritus Rektor von Ihrem Versagen?“
„N-nein. Ich habe ihn noch nicht angerufen.
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