Staub zu Staub
verfallen sind. Ich meinte die richtige Kabbala, jene mystische Geheimlehre des Judentums. Und übrigens: Ich habe Ihnen nicht erlaubt zu rauchen.“ Mit der Schuhspitze schob er den Papierkorb unter dem Tisch hervor.
Walters seufzte, nahm die Zigarette aus dem Mund und steckte sie zurück in die Schachtel. „Geheim? Wieso denn geheim?“
„Weil sie früher nur mündlich weitergegeben wurde, um die Unwürdigen davon fern zu halten. Nur ein kleiner Kreis von Gelehrten durfte ihre Tiefen erforschen. Doch dadurch ging einiges an Wissen verloren und man begann, die Erkenntnisse niederzuschreiben. So entstanden Schriften, welche die Grundlagen der theo-retischen Kabbala bildeten. Wie zum Beispiel Sefer Jezirah – das Buch der Schöpfung – und Sefer haz-Zohar – das Buch des Glanzes.“
Tilse schritt zum Fenster und sah zum Kirchturm, dessen Spitze in den schwarzen Himmel stach. „Ich verstehe nicht, wie irgendeine Lehre unser Problem lösen könnte. Esoterik und Okkultismus sind keine zuverlässigen Helfer.“
„Das hat nichts mit Esoterik zu tun. Wissen Sie noch, was Jonathan gesprochen hat, als er Pater Preschke heilte?“
„Irgendwelche hebräischen Worte.“
„Kether war dabei. An die andern kann ich mich nicht erinnern, aber Kether bedeutet die Krone und ist das erste Sefirah des Baumes des Lebens, des Schlüssel-elementes der Kabbala.“ Friedmann legte Tilse kurz die Hand auf die Schulter, bevor er sich wieder abwandte. „Jede Religion sucht den Weg zur Erleuchtung. Die Kabbala zeigt einen der kürzesten.“
Walters deutete mit dem Zeigefinger nach oben. „Den Weg zu Gott also?“
„Ganz genau. Wer begreift, wie alles entstand, was gerade geschieht und wohin uns das führt – schließt den Kreis. Er verschmilzt mit Gott.“ Friedmann senkte die Lider und flüsterte. „Halten Sie kurz inne und überlegen Sie sich, was das bedeutet, mit Gott zu verschmelzen.“
„Und wo fängt dieser Weg an?“, fragte Tilse.
„Am Ursprung. Die Welt entstand in sechs Tagen aus den hebräischen Buchstaben. Gerade deswegen wird Hebräisch als die Sprache Gottes angesehen. Diesen Vorgang beschreibt der Baum des Lebens - Ez Chajim – ein Graph mit zehn Knoten – den Sefirot - und 22 Pfaden, denen jeweils ein Buchstabe zugeordnet ist. Er steht für das Universum und den Menschen – stellt den Mikro- und Makrokosmos dar.“
„Äh, was?“, unterbrach Köhler. „Aus Buchstaben? Wie kann man eine Welt aus Buchstaben erschaffen?“
Friedmann ging zu einem der Regale. Seine langen Finger liebkosten die Ein-bände der Wälzer. „Kennen Sie immer noch nicht das Evangelium des Johannes?
Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott
. Ah. Da ist es.“ Er griff nach einem Buch. Hebräische Goldlettern glänzten im Licht, als er es aufschlug. „Hören Sie sich das mal an:
Hier, wo Er sich in Seinem zentralen Punkt zusammenzog, bewirkte Er eine Begrenzung und Rückgang des Lichtes, und schuf aus diesem zentralen vom Licht umgebenen Punkt einen aus Kreisen geformten leeren Raum
.“ Er blickte auf. „Das hat der Kabbalist Rabbi Isaac Luria, oder Ari, im 16. Jahrhundert geschrieben, über den Beginn des Universums. Woran müssen Sie bei diesen Zeilen denken?“
Niemand antwortete.
„Der Urknall“, half Friedmann. „Ist das nicht faszinierend? Rabbi Isaac Luria beschrieb die moderne Ansicht der Entstehung der Welt, also der Materie, Raum und Zeit aus einer Anfangssingularität. Gott ist die Unendlichkeit - Eyn Sof.“ Er sah wieder ins Buch. „
Vor Ihm gab es nichts und Er war alles und unbegrenzt, bis Er durch Seinen Willen die Welt erschuf
.“
„Und woher bezogen die Kabbalisten ihr Wissen?“, fragte Walters. „Hat Gott aus dem Nähkästchen geplaudert oder was?“
„Thora. Sie enthält bereits das ganze Wissen, die ganze Wahrheit. Man muss sie nur entschlüsseln. Und gerade damit beschäftigt sich die buchstäbliche Kabbala.“
Er stellte das Buch zurück und zog einen anderen Wälzer heraus.
„Rabbi Shim’on schrieb über die Thora im Zohar – erinnern Sie sich noch an Zohar, das Buch des Glanzes?
Wenn sie auf diese Welt herabsteigt und nicht die Gewänder dieser Welt anlegt, könnte die Welt sie nicht ertragen
. Und kurz später:
Deshalb sagte David: ‚Öffne mir die Augen, dass ich die Wunder aus deiner Torah sehen kann’, das, was unter dem Gewand der Torah liegt
. Wenn wir also das gesamte Wissen dieser Welt erlangen, den Weg zu Gott finden und uns mit ihm
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