Staub zu Staub
Luft.
Köhler erhob sich vorsichtig, um keine Bücher- und Papierstapel umzustoßen. „Wir haben ein Problem. Fürchte ich“, murmelte er.
„Sonst wären Sie nicht hier.“ Konzentriert putzte Friedmann die Brillengläser, als würde ihn nichts anderes interessieren. „Also, kommen Sie sofort zur Sache.“
Betreten musterte Köhler seine Schuhspitzen. „Wie geplant haben wir den Alarm ausgelöst. Ich wollte warten, bis alle draußen sind, aber Walters“, sein Blick schweifte zu dem Burschen, „entdeckte den alten Preschke unbeaufsichtigt im Flur. Dann waren wir mit ihm schon auf der Kellertreppe. Ich habe mich nur kurz umgedreht, nur einen Moment nicht aufgepasst, da ließ er den Rollstuhl die Treppe hinunterstürzen.“
Friedmann setzte seine Brille auf. „Konnten Sie wenigstens etwas über den Jungen herausfinden?“
„Nicht viel. Preschke hat immer dasselbe wiederholt:
Und sie gingen hinein, doch den Leib fanden sie nicht. Aber was suchen sie den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden
.“
Friedmann unterbrach ihn mit einer schnellen Geste. „Lukas-Evangelium, Kapitel 24, Vers 5. Was Pater Preschke meinte: Der Junge lebt. Und wir haben bereits zu viel Zeit verloren.“
Tilse räumte einen Stapel Bücher von einem Stuhl und setzte sich. „Das halte ich immer noch für unwahrscheinlich.“ Er schlug ein Bein über das andere. „Zwei Tage am Kreuz - das ist doch …“
„Unsinn! Preschke hat uns alle um den Finger gewickelt, sogar mich. Und wäre er nicht geistig degeneriert, hätte er das Geheimnis mit ins Grab genommen. Wir müssen den Jungen finden. Wir müssen es! Um jeden Preis.“
Walters hüstelte in die Faust. „Junge? Er muss jetzt fünfundzwanzig sein. Aber davon mal abgesehen: Wie sollen wir das anstellen? Er wird kaum übers Wasser laufen und Bergpredigten halten.“
Tilse erwartete, dass Friedmann den Grünschnabel zurechtweisen würde, doch der Spiritus Rektor neigte den Kopf und spitzte die Lippen. Eine weiße Strähne fiel ihm in die Stirn.
„Pater Preschke hätte den Jungen niemals alleine wegschaffen können.“ Er nahm die Brille ab und kaute am Bügel. „Irgendjemand muss ihm geholfen haben. Also, mit wem pflegte er Kontakte?“
Walters schnippte mit den Fingern. „Da fällt mir was ein.“ Aus seiner schwarzen Lederjacke fischte er eine CD heraus und warf die Disk auf den Tisch. „Das hat das Mädchen verloren. Vielleicht ist es wichtig.“
Tilse beobachtete, wie die Scheibe über die Oberfläche schabte und unter ein Blatt rutschte.
„Ach ja.“ Langsam wandte Friedmann sich Köhler zu. „Ein Mädchen.“ Auf einmal lief sein Gesicht rot an und er schlug mit der Hand auf den Tisch. „Welches Mädchen?“
„Eine Pflegerin. Sie hat uns gesehen“, stotterte Köhler. Er deutete auf die CD und versuchte, das Thema zu wechseln. „Vielleicht sollten wir mal reinhören?“
Tilse lachte. „So eine Art Vivaldi-Code?“
Auch Friedmanns Mundwinkel zuckten zu einem Lächeln, das allerdings gleich wieder erlosch. „Vergessen Sie die CD. Finden Sie heraus, wer dieses Mädchen ist. Um Preschke und seine Kontakte werde ich mich kümmern. Der Junge …“
„Das ist doch bescheuert!“ Walters stand auf. „Ihr habt ihn ans Kreuz genagelt. Vor zweitausend Jahren wurde schon mal dasselbe versucht. Hat das was gebracht? Nein. Und was jetzt? Aller guten Dinge sind drei oder wie?“
Tilse schnellte hoch. „Mäßigen Sie …“
Friedmann stellte sich zwischen ihn und den Burschen. „Er hat Recht. Leider. Wir können ihn nicht vernichten.“
„Das war’s also?“ Tilse suchte in den grauen Augen nach einem Widerspruch, etwas, das ihm Hoffnung schenken könnte. „Wir geben auf? Und wofür haben wir gekämpft? Stets zwischen Hoffnung und Furcht gelebt?“
„Wir können ihn nicht vernichten. Noch nicht. Doch es liegt in unseren Händen, den Verlauf der Dinge zu ändern.“
„Aber wie?“
„Wissen bedeutet Macht. Allwissend zu sein, bedeutet allmächtig zu werden.“ Friedmann faltete seine Hände. „Verstehen Sie, was ich meine?“
„Ehrlich gesagt – nicht ganz.“
„Na gut. Was wissen Sie über die Kabbala?“
„Kabbala?“ Walters schnalzte mit der Zunge. Aus der Jeanstasche holte er eine zerknüllte Zigarettenpackung und klopfte sich einen Glimmstängel heraus. „Sind wir schon beim Tischerücken angelangt?“
Friedmann schaute ihn über den Brillenrand an. „Ich rede nicht von dem Humbug, dem einige alternde Popsternchen
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