Staub zu Staub
Alkoholismus?“
„Süße, viele Priester saufen. Aber weißt du was? Ich werde mich erkundigen. Und über den Geiger versuche ich auch was rauszufinden.“ Kristin stupste sie mit der Faust an die Schulter. „Hey, Kopf hoch! Wir schaffen das schon.“
Mirjam schaute zu ihr hoch. Wir? Nein, danke.
Die Scheibenwischer quietschten auf dem Glas, während neue Tropfen die Oberfläche berieselten. Gedankenverloren steuerte Mirjam ihren alten Volkswagen die nächtlichen Straßen entlang. Durch die undichte Stelle im hinteren Seitenfen-ster pfiff der Wind und etwas klapperte, vielleicht ein Steinchen in der Radkappe.
Noch zehn Minuten und es würde ein neuer Tag beginnen. Hoffentlich ein besserer. Sie schaute zum schwarzen Himmel auf und eine jüdische Weisheit kam ihr in den Sinn:
Es wird nicht eher hell, bis es nicht ganz dunkel geworden ist
.
Es wird wieder hell, ganz bestimmt, dachte sie. Sie beschloss, morgen zu ihrem Rabbi zu gehen und mit ihm über die Geschehnisse zu sprechen.
Mirjam blickte in den Rückspiegel. Scheinwerfer blendeten sie. Ob es derselbe Wagen war, den sie schon vor zehn Minuten gesehen hatte? Sie trat aufs Gas und huschte über die rote Ampel. Der Wagen blieb an der leeren Kreuzung stehen.
Bei der nächsten Gelegenheit bog sie nach rechts ab und parkte zwei Blocks von ihrer Wohnung entfernt. Sie eilte den Bürgersteig entlang. Plötzlich meinte sie Schritte zu hören und fuhr herum. Nichts. Nur die geisterhafte Straße erstreckte sich hinter ihr.
„Lächerlich.“ Sie wickelte sich fester in den grünen Schal über ihrer Strickjacke ein. Die nassen Haarsträhnen klebten an ihrem Gesicht. „Würden sie dich besei-tigen wollen, hätten sie das schon längst getan.“ Endlich erreichte sie den Haus-eingang und hastete die Treppe hoch.
Sie schloss die Tür auf und legte die Hand über die Mesusa. Das röhrenähnliche Gehäuse war auf dem rechten Türpfosten angebracht. Mirjam führte ihre Finger an die Lippen. Durch das Fensterchen der Kapsel lugten von einer Pergamentrolle die drei Buchstaben:
Schadai, ein Akronym für Schomer Daletot Israel - Hüter der Tore Israels. Eine Erinnerung an die Gebote des Herrn und die Besonderheit seines Bundes mit dem Volk Israel:
Du sollst die Worte, die ich dir heute sage, schreiben an die Pfosten deines Hauses und an deine Türe
.
Mirjam betrachtete die silbern glänzende Mesusa und dachte an Sonja, das Mädchen von nebenan, das sich gestern ausgesperrt und an ihrer Tür geklingelt hatte. Zusammen tranken sie Tee und aßen Tejglach – knuspriges Gebäck in Honigsirup. Bis die Mutter mit dem Charme einer Schneekönigin erschien und die Kleine nach Hause bugsierte. Bevor die Tür zufiel, hörte Mirjam deren Worte durch das Treppenhaus schallen: „Was willst du denn bei den Juden?“
In der Dunkelheit der Wohnung fühlte sich Mirjam ihren Ängsten ausgeliefert. Eilig schaltete sie das Licht an. Im Flur streifte sie die Schuhe von den müden Füßen und ging ins Wohnzimmer – das einzige Zimmer ihres Zuhauses, kaum größer als das von Preschke.
Rücklings ließ sie sich auf das Bett fallen. Unter ihr raschelte eine Zeitschrift und die zerknüllte Decke drückte in ihr Kreuz. Sie versuchte, an etwas Erfreuliches zu denken. Aber Preschkes Flüstern drängte sich in ihren Kopf.
Ich habe Wunder und Zeichen gesehen. Und ich habe ihn verraten
.
Sie spürte seinen Griff um ihr Handgelenk und seinen Atem, der ihre Wange streifte. Sie wandte sich den zwei Schabbesleuchtern im Glasschrank zu, die sie gekauft hatte, nachdem sie das Elternhaus verlassen hatte. Aus Silber und bläulichem Glas, genau wie die, in denen ihre Mutter die Schabbeskerzen anzündete. Doch heute dachte sie nicht an Liebe und Harmonie, die das Fest verströmte, nicht an den Kindersegen, den ihr Vater jeden Freitagabend sprach und seine Hände auf ihren Kopf legte, sondern an den letzten Streit mit ihren Eltern. Ob ihr Vater doch Recht hatte und alles geschah, weil sie nicht den Traditionen ihres Volkes folgte? Aber das tat sie doch trotzdem!
Die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos erhellten das Zimmer und die Schatten der Baumzweige krochen über die Wände. Das Telefon auf der Kommode klingelte. Mirjam zuckte zusammen und nahm den Hörer ab.
„Belzer.“
„Er ist in Örebro aufgewachsen, kam mit vierzehn in die Königliche Musik-hochschule Stockholm und …“
„Äh - was? Wer ist dran?“
Ein Kichern ertönte, das Mirjam unmöglich hätte verwechseln
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