Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Staub

Staub

Titel: Staub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
Vom Netzwerk:
fürchte, sonst würde die Polizei Mittel und Wege finden, Sie zu befragen.«
    Dr. Philpott hat keine Lust auf einen Besuch der Polizei. Er möchte keine Streifenwagen in der Nähe seiner Praxis sehen und auch nicht riskieren, dass Cops in sein Wartezimmer spazieren und seine Patienten erschrecken. Der Arzt ist ein sanft wirkender Herr mit schlohweißem Haar und anmutigen Bewegungen, der Scarpetta höflich begrüßt, nachdem seine Assistentin sie zur Hintertür hereingelassen und in die winzige Küche geführt hat, wo er sie erwartet.
    »Ich habe einige Vorträge von Ihnen gehört«, sagt Dr. Philpott und schenkt ihr eine Tasse Kaffee ein. »Einmal an der Richmond Academy und einmal im Commonwealth Club. Aber bestimmt erinnern Sie sich nicht an mich. Wie trinken Sie Ihren Kaffee?«
    »Schwarz, bitte. Danke.« Scarpetta nimmt an einem Tisch am Fenster Platz, aus dem man auf eine kopfsteingepflasterte Seitengasse blickt. »Der Vortrag im Commonwealth Club ist schon lange her.«
    Nachdem er die Tassen auf den Tisch gestellt hat, zieht er sich einen Stuhl heran, sodass er mit dem Rücken zum Fenster sitzt. Das Licht, das durch die Wolken fällt, lässt sein ordentlich gekämmtes, dichtes weißes Haar und seinen gestärkten Arztkittel aufleuchten. Ein Stethoskop hängt um seinen Hals, als sei es dort vergessen worden. Seine Hände sind groß und ruhig. »Soweit ich mich erinnere, haben Sie einige amüsante Geschichten erzählt«, meint er nachdenklich. »Allerdings immer geschmackvoll. Damals fand ich, dass Sie eine couragierte Frau sind. In jener Zeit wurden nicht allzu viele Frauen vom Commonwealth Club eingeladen. Eigentlich hat sich bis heute nicht viel daran geändert. Wissen Sie, ich habe sogar mit dem Gedanken gespielt, mich als Leichenbeschauer zu melden, so sehr haben Sie mich inspiriert.«
    »Dafür ist es noch nicht zu spät«, entgegnet sie lächelnd. »Soweit ich im Bilde bin, werden noch etwa hundert Kollegen gesucht. Die Personalknappheit wirft ziemliche Probleme auf, weil die Leichenbeschauer, insbesondere auf dem flachen Land, die meisten Totenscheine ausstellen, auf Notrufe reagieren und gleich vor Ort entscheiden, ob eine Leiche ein Fall für die Autopsie ist. Während meiner Amtszeit hatten wir im ganzen Bundesstaat ungefähr fünfhundert Ärzte auf der Liste, die sich freiwillig gemeldet hatten. Unsere Truppen – so habe ich sie immer genannt. Ich weiß nicht, was ich ohne diese Leute gemacht hätte.«
    »Heutzutage engagieren sich Ärzte nicht mehr gern ehrenamtlich«, sagt Dr. Philpott und umfasst die Kaffeetasse mit beiden Händen. »Insbesondere nicht die jungen Kollegen. Ich fürchte, auf der Welt geht es immer egoistischer zu.«
    »Ich versuche, nicht daran zu denken. Es schlägt mir aufs Gemüt.«
    »Wahrscheinlich ist das die vernünftigste Philosophie … Wie genau kann ich Ihnen helfen?« Ein trauriger Ausdruck tritt in seine hellblauen Augen. »Ich ahne, dass Sie keine guten Nachrichten für mich haben. Was hat Edgar Allan denn angestellt?«
    »Vermutlich Mord. Mordversuch. Sprengstoffanschlag. Vorsätzliche Körperverletzung«, zählt Scarpetta auf. »Bestimmt haben Sie von dem vierzehnjährigen Mädchen gehört, das vor einigen Wochen hier in der Nähe gestorben ist.« Sie möchte nicht weiter ins Detail gehen.
    »O Gott«, sagt er kopfschüttelnd und starrt in seine Tasse. »Gütiger Himmel.«
    »Wie lange ist er schon Ihr Patient, Dr. Philpott?«
    »Eine Ewigkeit«, antwortet er. »Seit seiner Kindheit. Seine Mutter habe ich auch schon behandelt.«
    »Ist sie noch am Leben?«
    »Sie ist vor ungefähr zehn Jahren gestorben. Eine ziemlich herrschsüchtige Person und recht anstrengend. Edgar Allan ist Einzelkind.«
    »Und der Vater?«
    »Alkoholiker. Hat vor langer Zeit Selbstmord begangen. Es muss ungefähr zwanzig Jahre her sein. Ich möchte Ihnen gleich sagen, dass ich Edgar Allan nicht gut kenne. Von Zeit zu Zeit kommt er wegen alltäglicher Dinge zu mir, hauptsächlich um sich gegen Grippe und Lungenentzündung impfen zu lassen. Das tut er jeden September, pünktlich wie die Uhr.«
    »Auch in diesem Jahr?«, will Scarpetta wissen.
    »Offen gestanden nein. Ich habe mir, kurz bevor Sie kamen, seine Akte angesehen. Er war am 14. Oktober hier und hat sich gegen Lungenentzündung impfen lassen, allerdings nicht gegen Grippe. Ich fürchte, mir war der Impfstoff ausgegangen. Sie wissen ja, dass es da einen Engpass gab. Deshalb hat er sich nur gegen Lungenentzündung impfen lassen und ist

Weitere Kostenlose Bücher