Staustufe (German Edition)
eingestehen, dass er fast schon die Aksoy vermisste. Lieber sie als Kettler. Eindeutig.
Es kam Winter am nächsten Morgen so vor, als sähe er Bert Stolze zum ersten Mal richtig: die große Gestalt, die schmalen Schultern, die dunklen Brauen, das starke Kinn, darüber schütteres Haar. Wie immer, wenn die Täterschaft geklärt war, verspürte Winter einen merkwürdigen Kitzel, der Person gegenüberzutreten, die eine so entsetzliche Tat begangen hatte.
Der Transport hatte sich aus irgendeinem Grund verspätet. Nun war der eingeplante Vernehmungsraum besetzt. Winter stand mit Kettler vor der Tür im Korridor, während zwei uniformierte Beamten sich mit dem behandschellten Stolze näherten. «Morgen», begrüßte Winter den Tross, «wir müssen umdisponieren, in die Vier.»
In dem Moment öffnete sich ein Stück weiter eine Bürotür. Stolze riss sich mit einem Ruck los, sprintete in das Büro, und dann hörte man einen Knall und lautes Klirren von zersplitterndem Glas.
«Rettungswagen rufen!», brüllte Winter Kettler zu, bevor er selbst hinterherspurtete. Doch es war alles zu spät. Durch die zersplitterte Glasfront des Büros sah Winter Stolzes Gestalt reglos unten im Hof liegen. Winter spürte seine Knie weich werden.
«Die Fenster, die … die sind eigentlich verstärkt», stammelte der Kollege hinter einem der Schreibtische geschockt. «O Gott … Er muss mit einer unglaublichen Gewalt dagegengerannt sein. Der … der wollte sterben. Wer um Gottes willen ist das denn?»
In der Haftzelle fanden sie später ein Geständnis, in dem Stolze alle Schuld auf sich nahm und seine Familie entlastete. Er habe seine Frau und seinen Sohn immer nur schützen wollen. Er habe immer nur das Beste gewollt.
Das Tragische war, dass Winter ihm das sogar glaubte.
Am Abend brach Winter mit einer alten Familientradition: Er erzählte von seiner Arbeit. Schließlich waren die Kinder jetzt alt genug. Und auch Carola würde weniger an ihm herumkritteln, wenn sie wusste, was ihn den Tag über beschäftigt hielt.
Winter kündigte also an, er wolle «von dem verrücktesten Mordfall seiner ganzen Karriere» berichten. Prompt setzte sich sogar Sara brav mit an den Esstisch. Und auch Carola, obwohl sie eigentlich wieder Diät hielt.
Winter erzählte von dem Mainmädchenfall, von Anfang bis Ende, ließ sich Zeit. Nur die Sara-Komplikation ließ er weg. Das Erzählen machte ihm Spaß. Und bei den Kindern war sein Bericht ein voller Erfolg. Die hatten ihm lange nicht mehr so gebannt zugehört. Fast war es wie früher.
«Was ich nur noch nicht verstanden habe», sagte Winter am Schluss, «das ist: Wie kam das Mädchen auf die Idee, einfach irgendwo zu klingeln und zu erzählen, sie wäre die Erbin des Hauses? Wir haben das mit den Standesämtern abgeklärt. Zu Geibel jedenfalls besteht keine Verwandtschaft.»
«Also, ich glaube, ich weiß es», sagte Sara. «Ich konnte neulich nicht schlafen und habe mir spät einen Film angesehen. Da tauchte irgendwo in einer reichen Villa eine junge Frau auf und behauptete, sie wäre die Enkelin des verstorbenen Erbonkels. Diese Enkelin war als Kind verschwunden. Die bisherigen Erben haben die angebliche Enkelin notgedrungen aufgenommen. Und der ganze Film ging dann darum, ist sie es nun oder ist sie eine Betrügerin. War von 1970 oder so. Heute würde man das natürlich mit einem Gentest klären.»
Im Altpapier fanden sie das Fernsehprogramm. Der Film war in der Nacht ausgestrahlt worden, die Jessica auf Naumanns Hausboot verbracht hatte. Am folgenden Nachmittag war Jessica mit der Geschichte der verschollenen Enkelin von Haus zu Haus gezogen, die ihr am Ende den Tod gebracht hatte.
«Großes Lob, Sara», sagte Winter und klopfte seiner Tochter auf die Schulter.
Die Kinder verließen die Küche. Winter blieb mit seiner Frau allein zurück. Prompt sagte Carola: «Wenn du glaubt, dass du dich mit Verweis auf deine Arbeitslast aus der Verantwortung stehlen kannst, dann hast du dich geschnitten.» Und dann ging auch sie.
Das war der Moment, wo Winter klarwurde, dass er ein echtes Problem mit Carola hatte. Er musste mit ihr reden, sie fragen, was eigentlich los war. Ihr sagen, dass er seit Wochen, vielleicht sogar Monaten kein nettes Wort mehr von ihr gehört hatte. Doch er verschob es auf morgen.
Am Freitag übergaben sie den Fall und das Schicksal Sabine Stolzes endgültig der Staatsanwaltschaft. Danach bat Fock Winter per Mail, doch mal kurz in sein Büro zu kommen.
Dort durfte Winter sich
Weitere Kostenlose Bücher