Staustufe (German Edition)
Leiche entdeckt hab. Da hat Bert in der Nacht draußen vor der Tür gesessen und versucht, mich mit Feuer und Rauch herauszutreiben, und dabei hat er die ganze Zeit geredet. Es war so, an dem ersten Termin, an dem wir damals einziehen sollten, als wir also mit dem VW-Bus angefahren kamen, da ging mein Mann ins Haus und sah Geibels Gepäck im Flur stehen. Da wusste er schon, es stimmt etwas nicht. Geibel hat er blau im Gesicht in einem Wohnzimmersessel liegend gefunden. Geibel hat ganz röchelnd geatmet und hatte die Augen halb auf, aber Bert meinte, er wäre wahrscheinlich schon bewusstlos gewesen. Er hätte ihn nicht wahrgenommen. Bert wusste natürlich, er muss jetzt eigentlich einen Arzt rufen. Dann hat er aber daran gedacht, was das für uns bedeutet, wenn Geibel jetzt ins Krankenhaus kommt und dann wahrscheinlich stirbt und jedenfalls nicht nach Thailand fährt. Dass wir dann eben wieder keine Wohnung haben – und ich im siebten Monat schwanger. Und dann ist Bert einfach still und leise wieder gegangen. Und mir hat er gesagt, Geibel wäre noch nicht weg. Zwei Tage später ist er dann wieder hin. Da hat er, wie er gehofft hat, Geibel tot in dem Sessel gefunden. Er hat die Leiche verpackt und sie und Geibels Gepäck im Keller eingeschlossen und den Sessel, auf dem Geibel gesessen hatte, noch dazu, weil da wohl ein Urinfleck drauf war. Und dann hat er mich angerufen und gesagt, alles in Ordnung, Geibel ist weg, wir können einziehen.»
«Und Sie glauben ihm diese Geschichte? Dass es ein natürlicher Tod war und nur unterlassene Hilfeleistung seinerseits?»
«Ja. Ganz bestimmt. Bert war ganz außer sich vorgestern Nacht. Er hat geweint. Ich habe ihn nie vorher weinen hören. Da hätte er mich doch nicht mehr angelogen. Er hätte auch den Geibel nicht einfach so kaltblütig umgebracht.»
«Ach, tatsächlich? Nachdem er vorgestern um ein Haar seinen eigenen Sohn erschossen hätte?»
«Was?!» Sabine Stolzes verschwollene Augen weiteten sich vor Entsetzen.
Von dieser letzten Tat ihres Mannes wusste sie ja noch nichts. Winter vermied eine Antwort, nutzte den schwachen Moment für die nächste entscheidende Frage.
«Frau Stolze, bitte erzählen Sie mir doch jetzt, wie das Mädchen Jessica Gehrig alias Jeannette oder Jennifer zu Tode kam.»
Ausgerechnet jetzt platzte die kurzhaarige Psychologin herein. «So, ich denke, es langt. Frau Stolze hat jetzt genug geredet. Es ist auch gleich Visite.»
«Wir können hier jetzt aber nicht unterbrechen», erklärte Winter platt und kompromisslos. Zum Glück pflichtete ihm Sabine Stolze bei.
«Ja, bitte», sagte sie, «wenn’s geht, ich will das jetzt hinter mich bringen. Dann habe ich wenigstens das geschafft.»
Die Psychologin sah ein wenig ratlos drein, nickte schließlich und verschwand.
«So, Frau Stolze. Wir waren gerade bei dem Mädchen, dessen Leiche wir im Main gefunden haben.»
«Ja. Ja, natürlich.» Sie schluckte, nahm noch etwas Wasser. Ihre Hand zitterte trotz Beruhigungsmittel. Winter ahnte plötzlich, dass Frau Stolze möglicherweise an Beruhigungsmittel gewöhnt war, sodass sie bei ihr nicht mehr gut wirkten. Wie der Alkoholiker, der bei drei Promille noch halbwegs kompetent Auto fährt, während ein Jugendlicher mit dem gleichen Pegel mit Alkoholvergiftung im Krankenhaus landet.
«Es war am Freitag vorletzter Woche», erzählte Sabine Stolze. «Es klingelte, und dann stand da dieses Mädchen und sagt, sie ist die verschollene Enkelin von Werner Geibel, und unser Haus gehört eigentlich ihr. Es war genau der Albtraum, vor dem ich mich fast mein ganzes Leben gefürchtet hatte. Dass eben ein Verwandter aufkreuzt.»
Winter dachte, er höre nicht recht. Das Mainmädchen die Enkelin des Polizisten Geibel? Das war doch unglaublich. Der Fall wurde immer verrückter.
Sabine dachte zuerst, es wäre eine Bekannte von Basti. Aber die junge Besucherin sah zu merkwürdig aus, wie sie in der Tür stand mit ihrer weiten schwarzen Kutte und dem weißgeschminkten schmalen Gesicht. Die Augen hatten diesen naiven Blick über dem kaugummikauenden Mund mit den schwarzen Lippen. «Hallo», sagte sie mit heller, unschuldiger Mädchenstimme und zeigte ein kindliches Lächeln. «Also, Sie wissen bestimmt nicht, wer ich bin. Ich bin die Jeannette. Ich war halt viele Jahre nicht da, also, weg von zu Hause. Im Ausland. L.A. und so. Ich flieg auch bald wieder hin. Hier ist mein Ticket, wollen Sie sehen? – Mit meinen Eltern will ich echt nichts mehr zu tun haben. Jedenfalls,
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