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Staustufe (German Edition)

Staustufe (German Edition)

Titel: Staustufe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Reichenbach
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etwas zu finden gab. Was an der Staustufe anschwamm, war meist viel weiter im Osten, im Stadtzentrum oder beim Gutleutviertel, in den Fluss geworfen worden. Achselzuckend ging er ein paar Schritte weg von der Betontreppe, zwängte sich an dem Bauzaun und diversen Röhren vorbei direkt ans Ufer. Gute zwanzig Meter von ihm entfernt trieb etwas Helles an der Oberfläche, immer wieder von Wasser überspült. Schreiende Möwen und Krähen umschwärmten es und stritten sich um die besten Brocken. Winter spürte leichte Übelkeit in sich aufsteigen. «Werfen Sie ihnen zur Ablenkung Ihr Brot zu», brüllte die Aksoy von oben. «Von meinem ist nichts mehr übrig.»
    «Hab nichts dabei», brüllte Winter zurück, der seit der Grundschule keine Stullen mehr mit sich herumgeschleppt hatte. «Gerd, hast du was zu essen?», rief er über die Schulter nach hinten. Gerd war sein Freund und Kollege. Er saß noch im geparkten Wagen, bei offener Tür, und wirkte unbeteiligt. Wartet schon auf seine Versetzung nach Kassel, dachte Winter. Er fühlte sich von Gerd ein bisschen verraten.
    In der Ferne sah man das Boot der Wasserschutzpolizei antuckern. Die Taucher hatten ihr Gummizeug schon angelegt.

    Lena betrachtete ungläubig ihr Spiegelbild. Der Albtraum war vorüber, hatte sich wie durch ein Wunder in Luft aufgelöst. Aber sie sah noch immer aus wie ein Gespenst. Unter ihren Augen schillerten riesige graulila Halbmonde, die Lider waren rot verquollen, die restliche Gesichtsfarbe ein ungesundes Kalkweiß. Nicht mal Lächeln half.
    «Ja, wo ist denn mein Mäuschen?», drang eine sanfte Stimme aus dem Flur.
    Nino war aufgewacht. Und plötzlich war die ganze Angst und Qual wieder da. Die Stimmung der unerträglichen letzten Tage, der grässlichen letzten Wochen. Konnten sie jetzt wirklich in ihr altes Leben zurückkehren, so als wäre das alles nicht passiert?
    Eine Sekunde später stand Nino vor ihr. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände.
    «Na, wie sehe ich aus?», fragte Lena selbstironisch.
    «Süß siehst du aus», sagte er, «süß und ein bisschen arm. Lenchen, du sollst nie wieder so arm aussehen.» Sie musste schmunzeln. Er küsste sie auf die verquollenen Augen.
    «Ist das Gespenst weg?», fragte sie scherzhaft.
    «Weg, ganz und gar weg. In Luft aufgelöst, implodiert, in den Himmel aufgefahren, was weiß ich. Ich kann mich an gar kein Gespenst mehr erinnern. Es ist alles wieder gut. Ganz bestimmt.»

    Winter fand den Zeugen unsympathisch. Was natürlich auch an seiner eigenen Bombenstimmung liegen konnte. Schon der perfekt gestylte Designer-Laufdress des Typen störte ihn.
    «Normalerweise schaue ich nicht nach unten, wenn ich auf der Brücke langlaufe», berichtete der Mann. «Man kommt ja beim Laufen in so einen Flow, wissen Sie, da nimmt man seine Umwelt kaum wahr. Aber die Möwen waren so laut …»
    «Was ich vor allem von Ihnen wissen muss», unterbrach ihn Winter, «ist, was Sie genau gemacht haben, nachdem Sie gemerkt haben, da liegt was im Wasser. Also zum Beispiel, ob Sie sich da oben über die Brüstung gelehnt haben. Oder ob Sie hier unten ans Ufer gegangen sind, um zu gucken.»
    «Ja, wissen Sie, da müsste ich jetzt noch mal hochgehen, um das zu rekonstruieren, wenn Sie wirklich jede Bewegung wissen wollen …»
    Oben war jetzt die Spurensicherung.
    «Versuchen Sie einfach, sich zu erinnern», schlug Winter vor. «Machen Sie die Augen zu, das hilft.»
    «Ja – also, ich bemerke die Möwen – und dann … als ich etwa auf gleicher Höhe war, da bin ich an die Brüstung. Bin auf eins dieser Rohre gestiegen, die im Moment dort rumliegen. Hab mich drübergebeugt. Dann hab ich’s gesehen. Irgendein Russenmafiamord mal wieder, nehm ich an?»
    Winter ignorierte das. «Wir werden Ihre Fingerabdrücke und Schuhabdrücke nehmen, falls Sie dort oben was hinterlassen haben. Damit wir Ihre Spuren nicht für Täterspuren halten. Kommen Sie morgen früh ins Präsidium, dann erledigen wir das.»
    «Es war übrigens noch jemand hier», redete der Zeuge weiter. «Ich denke, eine Frau, aber so gut konnte man das nicht erkennen. Ziemlich ungepflegt, fettige Haare, fleckige Haut. Wirkte irgendwie vermummt. Die Person stand da vorne bei der Baubude am Ufer rum. Als ich das Handy rausgeholt hab, um die Polizei anzurufen, ist die plötzlich ganz schnell abgedüst.»
    Wahrscheinlich auch nur eine Zufallszeugin, die sich fragte, was die Möwen anlockte. Aber Winter behielt die Information im Hinterkopf.

    Als das traurige Treibgut

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