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Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Titel: Stefan George - Karlauf, T: Stefan George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Karlauf
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nämlich aus Sensibilität ähnlich veranlagt sein wie ich. Er steht, wenn ich mich nicht täusche, in der Mitte von beiden Geschlechtern … So stehen wir uns gegenüber wie Mensch zu Mensch. Er hat gar keine Möglichkeit, sich in mich zu verlieben. Das ist für ihn aber nicht ein Grund, sich mit mir zu langweilen, sondern im Gegenteil: es ist ihm förmlich eine Erlösung, bei einer Frau zu sein, die so absolut frei ist von dem gefälligen Ton … Und doch, wir können, glaube ich, von allem sprechen. Hier könnte sich wirklich eine Freundschaft sans phrase entwickeln … Alles Innige – alles, was an Liebhaben auch nur streift, ist aus dieser Beziehung ausgeschlossen, dennoch könnte er von Reinhold und mir Unglaubliches verlangen; es ist das Übermenschliche in ihm, dem man huldigt. 58
    In den folgenden Jahren sei jedes ihrer Gespräche »Bekenntnis« gewesen: »So wahr, so ganz sein zu dürfen, wie ich innerlich geschaffen bin, ist mir sonst nie im Leben vergönnt gewesen … Alles durfte ich eingestehen und nirgends Verdammnis, wenn ich ihm die Leidenschaftsfähigkeit meiner Jugend bekannte … Einmal wandte er sich zu mir und sagte: ›Wir sind uns doch ähnlicher als man es meine [sic] sollte.‹« 59 Weil Sabine Lepsius gerade aufgrund seiner homoerotischen Veranlagung eine starke Zuneigung zu ihm fasste, begegnete er ihr seinerseits mit einer gewissen Unbefangenheit. Im November 1903 scheint George in ihrer Gegenwart sogar in Schluchzen ausgebrochen zu sein – einer der wenigen überlieferten Gefühlsausbrüche dieser Art. Er habe seinen Kopf an ihre Schulter gelegt, erinnerte sich Sabine Lepsius, aber »eine unerklärliche Scheu« habe sie daran gehindert, ihn an sich zu drücken und »ihm die Tränen von den Augen zu küssen«. 60 Bevor sie ihre Hemmungen überwinden konnte, seien die Kinder zur Tür hereingeplatzt. In diesem Moment habe ihr Verhältnis für immer einen Riss bekommen.
    George schützte sich vor heftigen Gefühlsausbrüchen, indem er immer häufiger den direkten Kontakt zu Reinhold suchte und Gesprächen mit Sabine unter vier Augen aus dem Weg ging. Auch Reinhold Lepsius scheint es in späteren Jahren nicht für ratsam gehalten zu haben, seine Frau länger mit George allein zu lassen, da sie zu »Aussprachen« neigte, die meist rasch in Streitgespräche ausarteten. Noch in ihren Erinnerungen beschwerte sich Sabine, dass Reinhold
ihr zuletzt kaum einen Augenblick der Zweisamkeit mit dem Dichter mehr gegönnt habe. Obwohl sie wusste, dass ihm solche Themen peinlich waren, nutzte sie jede Gelegenheit, mit George über Kindererziehung und die Bedeutung der H-moll-Messe, über die Stellung der Frau im Allgemeinen und weibliche Erotik im Besonderen zu diskutieren. Als Reinhold bei ihrer letzten Begegnung vor dem Krieg für einige Minuten den Raum verließ, weil ein Bote kam, ermahnte George die Freundin noch einmal, »dass man nicht immer Dinge berühren müsse, in denen man verschiedener Meinung sei«. 61 Trotz aller Gegensätze in weltanschaulichen Fragen sprach George später stets wohlwollend über Sabine Lepsius. Als Edith Landmann ihm während des Krieges ein paar kritische Bemerkungen zu entlocken suchte, wehrte er ab: »Sie war wenigstens amüsant. Das Amüsante ist etwas. Wenn Sie wüssten, wie langweilig Deutschland damals war. Das kann man sich heut gar nicht mehr vorstellen.« 62

4
    Es war ein Spätnachmittag im November, unbestimmbar graue Häusermassen, dunkle, vorbeieilende Menschensilhouetten, weißes Glühlicht und ein gelblich grün absterbender Himmel … Wir saßen in den mit verschleierten Lampen matt erleuchteten Räumen auf florentinischen eingelegten Sesseln, auf verblasstem Brokat. Bekannte Menschen waren zugegen. Nur in gedämpften Tönen wurde gesprochen. Dann glitt aus einer Seitentür ein Mann herein und setzte sich, nach einer Verbeugung, an das gelbverhüllte Licht; hinter ihm eine japanische golddunkle Stickerei, nicht weit von ihm Lorbeerzweige und orangerote Blüten in getriebenem Kupfergefäß. Niemals in meinem ganzen Leben ist mir ein so merkwürdiges Gesicht begegnet. Blass, verarbeitet, mit müden, schweren Lidern, mit herbem, ausdrucksvoll vibrierendem Mund … Er las mit leiser, gleichmäßiger Stimme, mit feiner, diskreter Betonung. Hin und wieder störte sein rheinischer Accent … Aber mehr und mehr wurden wir hypnotisiert, in die Stimmung hinein gebannt. Zum Schluß erhob er sich, sagte noch ein Gedicht her und schlug zum ersten Mal die Augen auf;

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