Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
sich dabei auch um bewusste Stilisierungen, die in der Summe durchaus die Vermutung nahelegen, George habe eine subtile Marktstrategie verfolgt. Ein solches Erklärungsmuster verkennt jedoch die tatsächlichen Machtverhältnisse zwischen Künstler und Publikum. Die intellektuellen Kreise von Charlottenburg, über die George 1897 zuerst vermittelt wurde, verstanden sich keineswegs als Transmissionsriemen, sondern knüpften an seine Durchsetzung eigene Erwartungen. Viele von denen, die damals anfingen, sich mit George zu befassen, allen voran Georg Simmel, entdeckten bei ihm, was sie selber verloren zu haben glaubten. »Was unter gewöhnlichen Umständen eine rückständige Lebensweise innerhalb bildungsbürgerlicher Lebensformen gewesen wäre, wurde von George zu einem die Zeitgenossen faszinierenden Lebensentwurf umgestaltet.« 48 Über diesen Dialog, in dem sich das Bürgertum mit der Kunst auf gemeinsame Wurzeln zu verständigen suchte, fand George den Weg zum Erfolg.
Reinhold und Sabine Lepsius, die als Porträtmaler der Berliner Gesellschaft in hohem Ansehen standen, hatten den Namen Stefan George zum ersten Mal im Dezember 1895 in Rom gehört. Auf einem Abendempfang im Salon von Harry Hertz schwärmte ihnen Richard Perls von einem neuen Dichter vor und brachte ihnen am folgenden Tag einige seiner Veröffentlichungen mit. Ein Jahr später meldete sich George, unter Berufung auf Perls, in der Lepsiusschen Wohnung zum Besuch an:
Als ich in mein Wohnzimmer trat, stand er schon dort. Nie werde ich diesen ersten Eindruck vergessen – ich wusste sofort, dass ich einer machtvollen, überragenden Persönlichkeit gegenüberstand. Seine Begrüßung, von selbstverständlicher Natürlichkeit und Lebendigkeit, hatte nichts von dem Absonderlichen, das mir geschildert worden war. Seine Blicke: fern und doch liebenswürdig … Sein Lachen, dieses sichere Erkennungszeichen eines Menschen, war sieghaft gewinnend und vom Schütteln der Mähne begleitet … Als störend empfand ich damals nur den Zylinder in seiner Hand und den gläsernen Fremdkörper in seinem einen Auge … Als George mich verlassen hatte, stand ich so sehr unter dem Eindruck seiner Größe, dass ich beschloss, das Kind, das ich unter dem Herzen trug, Stefan zu nennen. 49
George verließ Berlin, nach dem endgültigen Bruch mit Ida Auerbach, geb. Coblenz, in diesem Jahr früher als sonst. Am 30. November 1896, dem Tag seiner Abreise, berichtete ihm Karl Wolfskehl von seinem ersten Besuch im Haus Lepsius: »Ich habe selten ein Heim gefunden in dem so viel Kultur förmlich aus allen Winkeln tönt und dampft, ich habe mich sehr wohl da gefühlt … Von Ihnen wurde mit einer feinsinnigen Glut, in Begeisterung gesprochen, die wahrhaft verzückend war. Beide Gatten fanden sich in dieser liebenden Verehrung.« 50
Lepsius wohnten zunächst am Anfang der Kantstraße, direkt gegenüber dem Theater des Westens, in dem die Secessionisten ausstellten, ab 1903 in Westend. Ihr Salon zählte zu den ersten Adressen der Stadt, auch wenn er nie den Glanz der Salons von Félicie Bernstein, Helene Gräfin Harrach, Anna von Helmholtz oder Cornelie Richter erlangte, der Tochter Meyerbeers, deren Großmutter bereits legendäre Empfänge in Berlin gegeben hatte. Während dort auch der Hof, das Militär und die Hochfinanz verkehrten, war auf der Gästeliste von Lepsius vor allem das akademische und künstlerische Berlin vertreten. Neben manchen Koryphäen der Universität und älteren Gästen, die schon in Lepsius’ Elternhaus in der Bendlerstraße verkehrt hatten, begegnete man hier auffallend vielen Jüngeren. Sie kamen häufig über Sabines Bruder, den Dandy Botho Graef, ins Haus und hatten den Höhepunkt ihrer Karriere noch vor sich. Ludwig Justi, der spätere Direktor der Nationalgalerie, gehörte dazu, Heinrich Simon, der Erbe der Frankfurter Zeitung , oder Walther Rathenau, der Sohn des Gründers der AEG. Zu den auffallendsten Frauen zählten Mascha Eckmann, die Schwester von Lily Braun, und Sabines Jugendfreundin Lili Hensel, die mit dem ehemaligen Rektor der Berliner Universität, Emil du Bois-Reymond, verheiratet war.
Die Tradition der Salonkultur, die in den berühmten jours von Rahel Levin, Dorothea Mendelssohn und Henriette Herz hundert Jahre zuvor in Berlin ihren Anfang genommen hatte, war 1806, mit dem Untergang des alten Preußen, jäh unterbrochen worden. Nachdem sich im Vormärz das Gewicht vom literarischen zum politischen Salon
verschoben hatte, schoss während
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