Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Titel: Stefan George - Karlauf, T: Stefan George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Karlauf
Vom Netzwerk:
Intellektualisierung gleich, mit dem Siegeszug des Materialismus und der Aufklärung. Der größte denkbare Gegensatz hieß für ihn »Luther und die Antike«. Darüber werde er eines Tages ein Buch veröffentlichen: Das werde »lauter leere Blätter enthalten«. 85
    Am meisten befremdete George am Protestantismus jene Verknüpfung von Religion und Gelderwerb, die Max Weber in seiner berühmten Abhandlung Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus eingehend untersucht hatte. 86 Weber interessierte die Frage, warum im 16. und 17. Jahrhundert die »aufsteigenden ›bürgerlichen‹ Mittelklassen« gerade in den fortschrittlichsten und wohlhabensten Gegenden Europas – Genf, den Niederlanden, England – und später in den Neuengland-Staaten so anfällig gewesen seien für die »bis dahin unbekannte puritanische Tyrannei«. Was diese Gesellschaften einte, war das Ideal der Kreditwürdigkeit. Da nur derjenige
als kreditwürdig galt, der das Kapital zu mehren verstand, wurde dessen Vermehrung zu einem Hauptzweck des Lebens selbst. Die Prädestinationslehre Calvins eröffnete dem Einzelnen dabei die Möglichkeit, sich innerhalb seines Berufes vor Gott zu bewähren und so »ein pharisäisch gutes – Gewissen beim Gelderwerb« zu erlangen. »Ein spezifisch bürgerliches Berufsethos war entstanden.« 87
    Weil die asketischen Glaubensgemeinschaften auf jede kirchlichsakramentale Tröstung verzichteten, so Weber im zentralen Teil seiner Ausführungen, lebten ihre Anhänger im »Gefühl einer unerhörten inneren Vereinsamung des einzelnen Individuums «. Mit der »Ausschaltung der Magie als Heilsmittel« war die »Entzauberung« der Welt in ihr letztes Stadium getreten. »Entzauberung« bedeutete, wie Weber später erläuternd ausführte, nichts anderes als den Glauben, dass es »prinzipiell keine geheimnisvollen, unberechenbaren Mächte gebe … daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne«. 88 In dem Begriff »Entzauberung« liegt der Schlüssel zum Verständnis dessen, was sich zur gleichen Zeit, als Webers Studie erschien, 1904/05, im Werk Georges als Gegenbewegung vollzog.
    Weber nannte seine Untersuchung »eine Art ›spiritualistischer‹ Konstruktion der modernen Wirtschaft«. 89 Er wollte zeigen, dass der Ursprung des Kapitalismus »eben nicht in Aufklärung und Säkularisierung, nicht im Zerfall religiöser Bindungen, sondern ganz im Gegenteil in religiöser Leidenschaft« zu suchen sei. 90 In der Schlusspassage zeigte er sich von der Trostlosigkeit seiner eigenen Ergebnisse ziemlich deprimiert. Die unselige Verbindung von Puritanismus und Kapitalismus – so Webers ernüchternder Befund – habe »ein stahlhartes Gehäuse« geschaffen, in dem der Mensch gefangen bleibe, »bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist«. Es war die gleiche Metaphorik, deren sich auch George in diesen Jahren bediente. Es bleibe abzuwarten, so Weber, ob die »mechanisierte Versteinerung« für immer Bestand habe oder »ob am Ende dieser ungeheuren Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden«.

    Als ein solcher »ganz neuer Prophet« trat Stefan George auf. Weil er sich mit der »Entzauberung« der Welt nicht abfinden wollte, suchte er das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Mit Hilfe einer neuen Spiritualität sollte der Zauber neu in die Welt gebracht werden. Der direkte Bezug zu Weber war nicht zu übersehen. Zwei gewaltige universalistische Entwürfe, die der gleichen Grundeinsicht entstammten, traten so in unmittelbare Konkurrenz zueinander. Dem »stahlharten Gehäuse« des einen setzte der andere den trotzigen Glauben an die Erneuerbarkeit des Zaubers durch das Leben selbst entgegen: »Nur durch den zauber bleibt das leben wach.« 91

3 Blutleuchte
    Seit Januar 1901 lebte Stefan George die ersten Monate des Jahres regelmäßig in München. Er kam fast immer aus Bingen, wo er im Kreis der Familie die Weihnachtstage verbracht hatte, und fuhr im März oder April meist wieder dorthin zurück. Er fühlte sich schnell heimisch in der Stadt – »Du stadt von volk und jugend! heimat deucht / Uns erst wo Unsrer Frauen türme ragen«. 1 Noch während des Krieges hielt er sich jeweils einige Wochen zu Jahresbeginn hier auf. Dass George zwanzig Jahre mit bürgerlicher Regelmäßigkeit in München überwinterte, hatte nicht zuletzt ökonomische Gründe. Hier hatten sich nach ihrer Hochzeit im Dezember 1898 Karl und

Weitere Kostenlose Bücher