Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
grundstoff aller seiner breiteren schöpfungen« enthielten. Der Schwerpunkt der Auswahl lag beim älteren Goethe; allein vierzig Gedichte, mehr als ein Drittel, stammten aus dem damals allgemein noch wenig geschätzten West-östlichen Divan . 59
Blieben die Texteingriffe der Herausgeber bei der Goethe-Auswahl überschaubar, so gab George mit dem dritten und letzten Band der Reihe, dem Jahrhundert Goethes , jede Zurückhaltung auf. Alles, was nicht passte, wurde passend gemacht, es wurde weggeschnitten, abgeändert, umgedichtet. »Karl, ich weiss, was der Dichter sagen wollte, – er hat es nur noch nicht ausdrücken können«, rechtfertigte George seine Eingriffe gegenüber dem Mitherausgeber. 60 Die meisten Glättungen musste sich Heine gefallen lassen. »Für die Mouche« , die 33. Lamentation, die als sein letztes Gedicht gilt, wurde kurzerhand von 37 auf neun Strophen eingedampft. Das Gedicht enthalte »die schönsten verse neben den widerwärtigsten«, meinte George, 61 für den Reime wie »Glanze – Renaissance«, »Gekläffe – Basreliefe«, »Marmorschemen – Anathemen« zweifellos einem Verbrechen gleichkamen. Witz und Ironie hatten in der Dichtung so wenig zu suchen wie die von Heine lustvoll betriebene Zerstörung der dichterischen Illusion durch schnöde Reminiszenzen an den Alltag. Heine sei
»Journalist bis in seine Lyrik hinein«, erläuterte Gundolf später die Vorbehalte der George-Schule. Er habe »dem Ladenschwengel den Ton des Priesters ermöglicht« und dadurch »jedes Niveau« zerstört. 62 Hinzu kamen nicht zuletzt Heines anzügliche Invektiven gegen den homosexuellen Platen, die George nur als widerlich empfunden haben kann. 63
Das Jahrhundert Goethes vereinte zwölf Dichter, von Klopstock bis Conrad Ferdinand Meyer, chronologisch nach ihren Geburtsdaten. Ziel der Sammlung war es, »eine lückenlose Aufeinanderfolge« herzustellen, die wie von selbst »in den Bestrebungen der Blätter gipfelt«. 64 Die Hauptlast der Arbeit trug auch jetzt wieder Wolfskehl. Er war seit längerem damit beschäftigt, die Dichtung des 19. Jahrhunderts zu sichten. Vieles wurde von ihm bereits im Vorfeld verworfen: Tieck und Arnim, Kerner und Rückert, Geibel, Storm und die Droste. Bei keinem von ihnen kam das Dutzend zusammen, das den Herausgebern als Minimum erforderlich schien. Die zwölf, die übrig blieben, bildeten so etwas wie den eisernen Bestand der deutschen Poesie. Das Jahrhundert Goethes sei »eine kaum zu übertreffende Auswahl« und enthalte »auf fast zweihundert Seiten nicht ein schwaches oder ungeglücktes Gedicht«, schrieb Arnold Zweig 1938; die Anthologie habe zur Geschmacksbildung der Deutschen in dieser Epoche »entscheidend« beigetragen. 65 Mit diesem Band habe sich »das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Lyrik grundlegend geändert«, urteilte zwanzig Jahre später Friedrich Sieburg. 66
Die Anthologien im letzten Drittel des Jahrhunderts waren »im Kern auf zwei Grundtypen reduziert: das heroische Gedicht … und das sentimentale Gedicht«. 67 Uhland, Heine, Schiller, das war die Trias, die seit einem halben Jahrhundert die Dichtung der Nation in Goldschnittbänden repäsentierte. Uhland fehlte bei George und Wolfskehl ganz. Heine brachte es trotz aller Säuberungen auf nicht mehr als 15 kleinere Gedichte, und war damit ebenso unterrepräsentiert wie Schiller, von dem keine einzige Ballade für wert befunden wurde. Heine wie Schiller seien, so das Vorwort zur ersten Ausgabe, »in diesem zwölfgestirn eher die kleinsten als die grössten«.
Eine deutliche Aufwertung erfuhren Klopstock und Platen, den George damals noch sowohl seines starken Formalismus wie seiner homoerotischen Grundfärbung wegen schätzte (ein Vierteljahrhundert später nannte er ihn dann doch etwas »dünn«). 68 Novalis, um den es recht still geworden war, Mörike, der von seiner düsteren Seite gezeigt wurde, und Hebbel als schwermütiger Lyriker: Dies alles wurde vom Publikum mit Staunen und Zustimmung aufgenommen. Lenau bereitete Wolfskehl einiges Kopfzerbrechen. Zu seinen Favoriten zählten dagegen Brentano, dem er auch quantitativ den Vorzug gab vor Eichendorff, und Conrad Ferdinand Meyer, den er für seine eigentliche Entdeckung hielt. Eine Sonderstellung Hölderlins, der sieben Jahre später, gleichsam über Nacht, für George zum wichtigsten Dichter überhaupt werden sollte, war vorerst nicht zu erkennen. Zwar hatte Wolfskehl schon 1895 in den Blättern auf ihn aufmerksam gemacht. 69 Aber die
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