Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
entsezt das zimmer und ich wusste dass ich es nie mehr betreten würde.
Eröffnet wurde der Band mit vier autobiographischen Betrachtungen Sonntage auf meinem Land . In dem anschließenden, thematisch eng verwandten Stück Der Kindliche Kalender schildert George den Jahresverlauf so, wie er ihn als Kind und Jugendlicher in Bingen erlebt hat: entlang den katholischen Feiertagen von Epiphanias über Ostern und Pfingsten bis zum Advent. Als Höhepunkt in der langen Reihe der »vielen sonntage nach Pfingsten die wenig abwechslung brachten im kindlichen jahre« 76 behielt er das Fest des heiligen Rochus in Erinnerung, das Fest des Stadtheiligen von Bingen Mitte August. Noch über die Lebensmitte hinaus datierte George Briefe an Freunde gelegentlich nach dem Kirchenkalender: »2. Sonntag nach Ostern« (1896 an Wolfskehl), »am Himmelfahrtstag«, »am Stefanstag« (1898 an Lechter), »Mariae Lichtmess« (1899 an Sabine Lepsius) oder »Mar[iae] Verkündigung« (1903 an Verwey).
George hat den Kindlichen Kalender erst 1925 in die zweite Auflage von Tage und Taten aufgenommen. 1903 scheute er vor einem
so eindeutigen Bekenntnis zu seiner katholischen Herkunft offenbar noch zurück. Die in seinen Gedichten auffallend häufigen Anleihen in der katholischen Bildwelt können allerdings niemandem verborgen geblieben sein. Mit der Ausrufung Maximins zum neuen Heiland ab 1904 erwiesen sich Liturgie und Ritus der römischen Kirche dann endgültig als Georges wichtigstes Erbteil. »Erst George hat die deutsche Sprache dieses katholischen Zaubers mächtig gemacht.« 77 Wer nicht katholisch sei, meinte Gundolf einmal im Gespräch, könne George eigentlich gar nicht richtig verstehen. Dann korrigierte er sich: »Man muss aus katholischer Atmosphäre kommen; man muss katholisch gewesen sein.« 78
In einer überwiegend katholischen Kleinstadt unter der Aufsicht einer fanatisch religiösen Mutter aufgewachsen, konnte George sich nie ganz vom Katholizismus lossagen. Obwohl er in späteren Jahren schnell außer sich geriet, sobald »von Pfaffen, Jenseits und Kirche die Rede« war, 79 bewahrte er sich doch stets eine große Sympathie für die katholische Welt. »Der echte Katholizismus ist etwas Ehrwürdiges, Reines und Richtiges. Ich selbst habe bis zum achtzehnten Jahr darin gelebt«, bekannte er kurz nach dem Krieg. Eine Macht, die ihm befehle, jeden Tag in die Messe zu gehen, sei ihm jedenfalls lieber als eine, die ihn zwinge, »den Schießprügel in die Hand zu nehmen«. 80 Für den ehemaligen Ministranten, der seine Eltern zur Wallfahrt nach Walldürrn begleitete und gern das Weihrauchfass schwenkte, 81 war mit der Rom-Reise Ostern 1898 der Traum eines jeden Katholiken in Erfüllung gegangen: Auf dem Petersplatz erlebte er den Papst, der
eingehüllt von weihrauch und von lichtern
Dem ganzen erdball seinen segen spendet:
So sinken wir als gläubige zu boden
Verschmolzen mit der tausendköpfigen menge
Die schön wird wenn das wunder sie ergreift. 82
Nicht nur der sinnenfrohe, strenge Prunk der römischen Kirche hat das Weltbild des jungen George entscheidend geprägt. Auch sein Denken war von der Kirche beeinflusst und bewegte sich in den Bahnen
von Glaube und Wunder. Als er sich später für apokryphe Überlieferungen zu interessieren begann, entdeckte er zahlreiche Übergänge zwischen hellenistischem und frühchristlichem Gedankengut. Der Katholizismus habe deshalb eine solche Kraft, äußerte er im Gespräch mit Curtius, weil sich in ihm die antiken Mysterien zumindest in Restbeständen erhalten hätten. 83 George dachte dabei vor allem an das Brauchtum seiner engeren Heimat. In keinem anderen Landstrich sei das antik-heidnische Erbe so lebendig wie in Rheinhessen, schwärmte er. Etwas Dionysischeres als die Winzerumzüge von Bingen habe es im Deutschland seiner Kindheit nicht gegeben. 84
Die streng katholische Erziehung führte zu einem generellen Argwohn gegen alles Protestantische. Verstärkt wurde die frühe Abneigung in den Jahren am Darmstädter Gymnasium, wo George zur Minderheit der katholischen Auswärtigen zählte und die Nachwirkungen des »Kulturkampfes« zu spüren bekam. Die Kampfgesetze, mit denen Bismarck bald nach der Reichsgründung den Einfluss der katholischen Zentrumspartei hatte eindämmen wollen, wurden in der ersten Hälfte der achtziger Jahre zwar zurückgenommen, aber der Ruf der Katholiken blieb auf lange Zeit beschädigt. George seinerseits setzte Protestantismus mit Rationalisierung und
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