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Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Titel: Stefan George - Karlauf, T: Stefan George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Karlauf
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dem Klages mit der Verknüpfung Bachofenscher und Schulerscher Ideen begann, erschien (mit der Jahreszahl 1900) Die Traumdeutung von Sigmund Freud. Ärzte wie die Freud-Vertrauten Wilhelm Fließ und Georg Groddeck, der Philosoph Otto Weininger mit seinem epochemachenden Werk Geschlecht und Charakter (1903) oder ein paar Jahre später der Anarchist und Libertin Otto Gross interessierten sich vor allem für das Phänomen der Bisexualität
und die sexuellen Zwischenstufen. Im patriarchalischen Rollenverständnis mit seiner geschlechtsspezifischen Zuordnung männlicher und weiblicher Attribute erkannten sie die Ursache zahlreicher seelischer Verkrüppelungen. Die »polymorph-perverse Veranlagung« des Menschen komme dabei zu kurz. Bei Franziska zu Reventlow las sich das so: »Die Beschränkung der Erotik auf das eine oder andere Geschlecht ist ja überhaupt eine unerhörte Einseitigkeit. Der vollkommene Mensch muss alle Möglichkeiten in sich tragen und jeder Blüte des Lebens ihr Aroma abzugewinnen wissen.« 66
    Über die mit ihrem Verhältnis zu Klages einsetzende Erotomanie von Schwabing hat niemand anschaulicher zu berichten gewusst als die Gräfin selbst, »the woman who did«. 67 – »Sie kannte die Männer«, attestierte ihr auch George nach Lektüre von Herrn Dames Aufzeichnungen anerkennend. »Ist schon ein bisschen beschämend, was da herauskommt.« 68 Bei aller Sympathie galt ihm Fanny Reventlow aber auch als warnendes Beispiel für das destruktive Potential von Frauen. »Als Klages die Reventlow kennen lernte, hat sie ihn beinahe zum Säufer gemacht. Er kam nie zu uns ohne zwei Flaschen Wein und betrank sich. Dass ein Frauenzimmer an einem so geistigen Menschen so etwas fertig bringen kann!« 69 Dadurch sei ihm früh das »Bündezerstörende der Frau« deutlich geworden, führte George aus, und bestätigte damit indirekt, dass er die kosmische Runde ursprünglich durchaus als Gemeinschaft betrachtet hatte und Klages’ Abhängigkeit von seiner Geliebten für das Auseinanderbrechen mitverantwortlich machte.
    Auch wenn dem einen oder anderen unter den Enormen »die Intellektualisierung der Erotik« entschieden zu weit ging, 70 verliehen die neuen Schlagworte dem Treiben von Schwabing doch neuen erotischen Schwung. Besonders während der Faschingszeit gab es für viele kein Halten mehr, und es ist kein Zufall, dass der Mythos Schwabing vor allem im Bild des Karnevals überlebt hat. Aber der kollektive Taumel der Kostümfeste genügte nicht allen. »Was hab’ ich davon, wenn ich abends dionysisch herumrase, mir wie ein Halbgott vorkomme und am nächsten Morgen doch wieder mit der Trambahn
in mein Bureau fahren muss«, fragte eine der nüchterneren Nachtgestalten in Herrn Dames A ufzeichnungen . 71
    Und die Protagonisten? Klages war viel zu gehemmt, stand meist nur als Zuschauer dabei, während sich die anderen amüsierten, und ergab sich dem Alkohol. Schuler identifizierte sich als schwarz gewandete Urmutter so sehr mit sich selbst, dass er vollkommen die Fassung verlor, als er nach dem Wohlbefinden seiner Mama gefragt wurde. George schlüpfte als Caesar oder Dante in Rollen, von denen er hoffte, sie eines Tages ganz auszufüllen. Nur Wolfskehl war in seinem Element. Er hob »ein Schwabinger Mädchen nach dem anderen an sein weites Herz … nachdem er vorher mit ihr bis zur Besinnungslosigkeit herumgesprungen war«, 72 und wünschte sich, dass das Fest nie ende. Den Aschermittwoch erlebte jeder auf seine Weise.
    Die Kosmiker suchten sich gegenseitig darin zu überbieten, so hat Claude David das Paradox von Schwabing auf den Punkt gebracht, »aus Vernunftsgründen unvernünftig zu werden«. 73 Weil es ihnen aber, von Wolfskehl abgesehen, an Spontaneität fehlte und sie nicht einmal im Fasching in der Lage waren, aus sich herauszugehen, machte sich Frustration breit. Schuler blieb noch am konsequentesten, indem er alles kosmisch zu durchleuchten suchte: die geometrischen Figuren auf Wolfskehls Teegeschirr ebenso wie sein Nägelkauen. Er erklärte, was Lauch und Radieschen, Knödel und Weißwurst bedeuten, und schreckte nicht einmal davor zurück, seine Umgebung über das unterschiedliche Schillern seines morgendlichen Stuhlgangs aufzuklären. George war von Schuler fasziniert und schrieb ein knappes Dutzend Gedichte, in denen er ihn und die von ihm heraufbeschworenen Wahnwelten vergegenwärtigte. Auch wenn er vieles für Spuk hielt und schon früh bezweifelte, dass die Schulerschen Visionen einen Bezug zur

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